Zeichen und Wunder

05.01.2025

Österreich erlebt politisch spannende, turbulente Zeiten; nach dem Scheitern der Verhandlungen rund um die Bildung einer sog. "Ampel-Koalition" hat es jetzt den Anschein, als würde doch der Parteiobmann der FPÖ, Herbert Kickl, mit der Bildung einer Bundesregierung beauftragt.

Was bisher als nahezu ausgeschlossen gegolten hat, könnte gleichsam über Nacht Realität werden; die gegen Herbert Kickl errichtete "Brandmauer" gibt es scheinbar nicht mehr – der Chef der stimmenstärksten Partei bei den letzten Nationalratswahlen, der Freiheitlichen Partei Österreichs, gilt seit heute als salon- und regierungsfähig und allem Anschein nach wird Kickl der nächste Bundeskanzler der Republik Österreich werden – es geschehen also noch Zeichen und Wunder; anders ist der Sinneswandel von ÖVP und Alexander Van der Bellen nicht erklärbar.

Quelle: https://www.tt.com/artikel/30899290/blau-tuerkis-steht-vor-der-tuer-was-fpoe-und-oevp-trennt-und-wo-sie-sich-einig-sind

Diese scheinbar recht klare Situation ist mE aber bei weitem nicht so, wie sie dargestellt wird; vor allem eine längerfristige Kanzlerschaft von Herbert Kickl ist keinesfalls in Stein gemeißelt und alternativlos ist die Lage keinesfalls.

Es kann schon sein, dass die ÖVP rund um ihren neuen Parteiobmann Christian Stocker seit heute "gute Miene zum bösen Spiel macht" und vorgibt, ernsthaft verhandeln und mit der FPÖ koalieren zu wollen; es ist aber doch recht erstaunlich, wie schnell sich die maßgeblichen Kräfte in der ÖVP gegen Nehammer und für Kickl entschieden haben; Vorsicht ist geboten – der Schein könnte trügen, zumal die ÖVP derzeit, mangels personeller Alternativen, keine andere Möglichkeit hat, als sich vor der FPÖ in den Staub zu werfen bzw. bis auf die Unterwäsche zu entblößen; es hat viel eher den Anschein, als würde die ÖVP nur auf Zeit spielen und den passenden Moment abwarten, die FPÖ "auflaufen" lassen zu können; es wird recht bald der Zeitpunkt kommen, an dem das überwiegend von der ÖVP verursachte finanzielle Debakel thematisch auch ein maßgeblicher Teil der FPÖ sein wird; "mitgefangen, mitgehangen" wird es dann heißen und schon könnte es mit der Koalition wieder vorbei sein – die ÖVP wird jedenfalls alles unternehmen und keine Gelegenheit auslassen, um Kickl als Kanzler scheitern zu lassen

Das Schlimmste, was der ÖVP passieren kann ist, dass Herbert Kickl als Kanzler erfolgreich ist - denn der "kleine" Regierungspartner, in diesem Fall die ÖVP, erntet mit Sicherheit nicht die Lorbeeren dafür; das wird die ÖVP mit Sicherheit zu verhindern wissen.

Das Schlüsselressort schlechthin wird dieses Mal nicht, wie sonst üblich, das Finanzministerium sein, sondern das Justizministerium, auf das Stocker selbst reflektiert – als Justizminister wird es ihm recht mühelos gelingen, Sebastian kurz "weiß" zu waschen bzw. strafrechtlich zu exkulpieren – dann steht auch einem Comeback von Kurz nichts mehr im Weg.

Quelle: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=926215822887304&id=100064966830771&set=a.479594767549414

Aus Sicht der FPÖ wäre es daher allenfalls klüger, die Verhandlungen nach ein paar Tagen zu beenden und Neuwahlen zu "provozieren" – Kickl hat jedenfalls mit der ÖVP wesentlich mehr zu verlieren als Stocker mit der FPÖ; für Stocker steht nämlich absolut gar nichts auf dem Spiel, für Kickl die eigene Reputation und möglicherweise der Makel, als Kanzler gescheitert zu sein; für die FPÖ kann es jedenfalls angesichts der momentanen Umfragewerte nur schlechter werden, was bei der ÖVP kaum noch möglich ist – auch daran sollte man denken, wenn man sich mit Stocker & Co an einen Tisch setzt und ehe man sich mit ihm endgültig "ins Bett" legt.

Wenn bei Neuwahlen. und davon ist Stand heute auszugehen, die FPÖ knapp 40% der Stimmen auf sich vereinen kann, wäre klar, dass die ÖVP als Hauptverursacherin des ganzen Desaster jedenfalls auf der Oppositionsbank Platz nehmen müsste - und das kann ja nur das Ziel aller im Parlament vertretenen Parteien sein; die "Brandmauer" könnte dann gegen die ÖVP errichtet werden - denn dort müsste sie eigentlich stehen; Kurz, Schallenberg & Nehammer haben gemeinsam mit Kogler & Co das Land in die momentan recht aussichtslose Lage gebracht und ohne ÖVP wäre der notwendige, Spar- und Reformkurs auch leichter zu argumentieren und plausibler erklärbar; denn nüchtern betrachtet hat die ÖVP derzeit in einer Bundesregierung nicht das Geringste verloren - Nehammer & Co hatten viel zu lange Zeit, ihre schier grenzenlos scheinende Unfähigkeit unter Beweis zu stellen.

Niemand in diesem Land, das dürfte unbestritten bleiben, hätte am 29.09.2024 damit gerechnet, dass ganz Österreich froh sein muss, wenn es sich Herbert Kickl antut, den von der ÖVP und den Grünen verursachten Schaden liquidieren zu wollen - so können sich also binnen 100 Tagen die Vorzeichen ändern und wir müssen auf ein Wunder hoffen, dass Herbert Kickl das gelingt, worauf die ganze Republik wartet.

Chr. Brugger

05/01/2025