Wer steht wo oder für was?

19.03.2022

In der Wochenendausgabe der Salzburger Nachrichten vom 19.03.2022 begibt sich Christian Resch zur Frage "Wer ist wo" auf die Suche nach den "zwei Seiten einer Bredouille"; vier Expertenmeinungen werden in der Rubrik "Ursache & Wirkung" thematisiert, zu einer globalen Demokratieanalyse verdichtet.

Selbst ohne endgültige Antwort ist die Analyse (zumindest für mich) nicht ergebnislos, durchaus respektabel gelungen, zumindest insofern interessant, als angesichts des Krieges in der Ukraine das omnipräsente politische Getöse von West & Ost - im Sinne von gut & böse - eine erfrischend kritische Beurteilung erfährt, jedenfalls ohne das übliche, parteipolitisch indoktrinierte, Kalkül, irgendwelche Hintergedanken wirtschaftlicher oder geopolitischer Natur, losgelöst von persönlichen Animositäten.

Nüchtern betrachtet ist der grafisch dargestellte "Stand der Demokratie" das Spiegelbild dessen, was uns, die Bewohner der "Blue Marble" beschäftigen sollte.

Es geht dabei, wenigstens für mich, nicht um die Rivalität zwischen zwei Systemen, "blau" oder "rot", "grün" oder "violett" umrandet, irgendein Abstimmungsverhalten anlässlich einer UNO-Vollversammlung, keinesfalls auch um eine Entscheidung oder ein Voting für das eine oder das andere "System".

Entscheidend ist bzw. wird sein, wie wir das ewige Polarisieren beenden, den politisch Verantwortlichen beibringen, dass zweidimensionales "blau/rot"-Denken, Wasserstandsmeldungen über Demokratieindizes oder sonstige, reflexartige Staatenkategorisierungsmechanismen keine tauglichen Mittel einer vernünftigen außenpolitischer Betrachtung sind, sondern diese Sicht der Dinge speziell in Krisen dazu führt, dass vorhandene Gräben, mögen sie geopolitischer, systemimmanenter oder rein ideologischer Natur sein, tiefer und keinesfalls überbrückbar werden.

Quelle: https://de.statista.com/infografik/20599/economist-democracy-index/

Dazu kommt, dass die jeweiligen Systeme bzw. deren Anhänger unverrückbar in ihren jeweiligen Ideologien einbetoniert sind, sodass ein angemessen vernünftiger Disput gänzlich ausgeschlossen ist; diese redundante Geisteshaltung wird noch dadurch verhärtet, als der Inhalt und damit letztlich bereits das Ergebnis von Gesprächen, insbesondere auf "internationaler" Ebene, durch apodiktische Bedingungen determiniert bzw. unterminiert wird.

Unisono und ausnahmslos, global sohin, scheint der kategorische Imperativ im Sinne Kants ganz bewusst dazu missbraucht zu werden, dem Visavis pathologisch signalisieren zu wollen, dass lediglich die eigene "Maxime" Richtschnur seines Handelns sein könne.

Diese krude Herangehensweise vermeintlich diplomatischer Staatsfrauen/Staatsmänner erinnert frappant, quasi reflexartig, an den Artikel von Günter Traxler "Phrasen und Reflexe" im Standard vom 03.03.2022, den ich schon andernorts ob seiner Güte gelobt habe.

Die nüchternen Fakten von Christian Resch gepaart mit der erhellenden Einsicht von Traxler bringt das ans Licht, was in Wirklichkeit nirgendwo vorhanden ist: Diplomatische Intelligenz in Personalunion mit Hausverstand und dem nüchternen Blick für Sicht- und Denkweisen anders gearteter Systeme oder, wen man so will, Ideologien.

Die Überhöhung der eigenen Fehlbarkeit zur heilsbringenden Doktrin verbindet nicht nur das virtuelle Visavis reflexartig mit einem Frontalangriff auf all das, was im eigenen "Zuhause" für das Maß aller Dinge gehalten wird.

Um auf eine (weitere) Frage von Christian Resch ("Und wie stark sind "wir" wirklich?") einzugehen: Unsere Stärke ist nicht nach dem Grad demokratischen Durchdrungenseins oder einem fiktiven Menschenrechts-Index messbar, sondern daran, inwieweit wir bereit sind, Andersdenkende ernst zu nehmen und ihnen, unabhängig von Befindlichkeiten und Anlässen, vorbehaltlos gegenüberzutreten.

Das gilt für Scheich Muhammad bin Raschid Al Maktum ebenso wie für Wladmir Putin, Jair Bolsonaro, Xi Jinping oder Scott Morrison - unbeschadet dessen, ob "wir" sie für waschechte Demokraten, Tyrannen, Despoten oder Kriegsverbrecher halten, der Ansicht sind, sie wären paranoid, schizophren, bipolar, korrupt oder offen für alles.

Solange "wir" die zweite, dritte oder X-te Seite nicht sehen wollen oder können, bleibt die Ausweglosigkeit in Stein gemeißelt, wird die Bredouille zum Dauerzustand.


Chr. Brugger

19/03/2022