Wenn jemand eine Reise tut …

11.04.2022

Spätestens seit Matthias Claudius wissen wir, dass jemand dann, wenn er eine Reise unternimmt, auch etwas erzählen kann.

Zugegeben, etwas frei nach Claudius, tut unser Ex-Innenminister heute eine Reise nach Moskau, um dort den Präsidenten der Russischen Föderation zu treffen.

Als ich von diesem Unternehmen am späten gestrigen Abend Kenntnis erlangte, war mein erster Gedanken: Was will Nehammer dort, vor allem, was will er bei einem solchen Treffen erreichen?

Traut man der zwitschernden Community, hat Nehammer bei seinem Besuch in Moskau 3 Ziele:

  • Er will erreichen, dass humanitäre Korridore für die zivile Bevölkerung geschaffen werden
  • Er will einen Waffenstillstand in der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine initiieren
  • Er will eine vollständige Aufklärung von Kriegsverbrechen in Bewegung setzen

Dazu sollen die russisch-ukrainischen "Friedensgespräche" intensiviert und möglichst rasch zu einem Abschluss gebracht werden.

Für diesen "Soloausritt" in Richtung Osten wurde und wird Nehammer bereits vor dem Treffen mit Putin, zumindest europaweit, heftig kritisiert; was will ein außenpolitisches "Greenhorn" am Verhandlungstisch mit Putin erreichen?

Bislang zumindest ist Nehammer nicht durch strategisches Geschick oder Handeln in Erscheinung getreten bzw. auffällig geworden. Im Innerpolitischen waren seine Auftritte nahezu ausschließlich von Pannen (Anschlag vom 01.11.2020) und Pleiten (Impfpflicht) sowie persönlichen Animositäten ("Cobra-Gate") gekennzeichnet; außenpolitisch ist er hingegen bisher so gut wie überhaupt nicht tätig geworden.

Ohne despektierlich klingen zu wollen: Politisch ist Nehammer, nicht nur auf der internationalen Bühne, ein Leicht- oder Fliegengewicht, ein bedeutungsloser Nebendarsteller.

In Moskau wird ihm aber jemand gegenübersitzen, den man - wie immer man seinen Geistes- oder Gesundheitszustand bewerten will - durchaus als Schwergewicht und Hauptdarsteller betrachten muss.

Vielleicht ist es aber genau dieses "Ungleichgewicht", das Auseinanderklaffen der politischen Bedeutung der beiden Gesprächspartner, die Nehammer unvermittelt eine Erfolgschance eröffnet.

Selbst wenn auch Nehammer bislang in den Gleichklang der westlichen Politspitzen eingestimmt hat, wonach Putin ein Kriegsverbrecher sei, schlechthin als Initiator unzähliger Massaker und Anstifter zu Massenmorden an Zivilisten gelte, wird das einer "neutralen" Gesprächsbasis keinen Abbruch tun.

Putin scheint das westliche Stimmungsbild nicht sonderlich zu beeindrucken und Nehammer wird ihm bestenfalls vom Hörensagen bekannt sein - er wird ihm relativ gelassen gegenübersitzen und darauf warten, was Nehammer ihm zu berichten hat.

Die politische "Bedeutungslosigkeit" des Österreichers wird der größte Vorteil unseres Reisenden sein; er kann dem Russen frank und frei (von der Leber weg) sagen, was er vom Krieg in der Ukraine, vor allem dessen Folgen, hält.

Wie Putin darauf reagiert, bleibt abzuwarten; Großartiges dürfen wir zwar nicht erwarten, erhoffen aber allemal. Insofern hat Nehammer wenig zu verlieren, mag sein Ansinnen auch befremdlich anmuten.

Im Unterschied zu vielen anderen bin ich der Ansicht, dass Nehammer nichts verlieren, dafür aber persönlich äußerst viel, wenn nicht alles, gewinnen kann.

Bei den derzeitigen innenpolitischen Verhältnissen und Konstellationen ist es möglicherweise sogar die letzte Möglichkeit Nehammers, irgendwie sein eigenes innenpolitisches Überleben zu sichern.

Einen Fehler sollte Nehammer jedenfalls nicht machen: Den Rat des Ex- und wieder Außenministers Schallenberg zu befolgen, Putin erklären zu wollen, er habe den Krieg gegen die Ukraine zumindest moralisch verloren; einer kriegsführenden Partei zu erklären, sie habe den Krieg ohnedies schon (warum auch immer) verloren, wird dazu führen, dass die blutige Auseinandersetzung noch länger dauern wird, als dies unbedingt notwendig wäre.

Wenn der Moskaubesucher das ähnlich naiv und unbedarft sieht wie Schallenberg, könnte er sich die Reise ersparen, obwohl er dann wohl nichts zu erzählen hätte.


Chr. Brugger

11/04/2022