Was man lernen könnte

31.01.2022

Im Jahr 2005 wurde von den Vereinten Nationen der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust eingeführt - zum Gedenken an den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.

Quelle: https://www.welt.de/vermischtes/article236429645/Auschwitz-Niederlaendische-Touristin-wegen-Hitlergruss-in-Auschwitz-verhaftet.html

Diesen Tag nutzen auch hierzulande Parteipolitiker aller Couleurs, medienwirksam an die Naziverbrechen u.a. gegen die damalige jüdische Bevölkerung in Europa zu erinnern, einzumahnen bzw. aufzufordern, sich zu erinnern; es sei, sozusagen, die immerwährende Aufgabe, des Holocausts, der "Brandopfer", der "Schoa" ("Katastrophe") zu gedenken.

Ob das in der von der heimischen Politspitze gewählten Form nötig ist oder nicht, ob man dazu ausländische Gäste, vor allem aber Medien einlädt oder nicht, kann und will ich nicht beurteilen. Es wäre mir völlig fremd, den nationalsozialistischen Völkermord in Abrede stellen zu wollen, den, zweifellos programmatischen, zum politischen Alltag erhobenen, Genozid zu leugnen, aber auch die vor mehr als 75 Jahren begangenen, abscheulichen Hinrichtungen vor allem an den jüdischen Teilen der Bevölkerung in irgendeiner Weise zu verharmlosen.

Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/auschwitz-gedenkstaette-antisemitisch-beschmiert-17571666.html

Vielleicht, ich will das nicht werten, hat es durchaus Sinn, einen solchen "globalen" Gedenktag zu begehen, um dadurch auch immer wieder öffentlich an das zu erinnern, was vor knapp einem Dreivierteljahrhundert geschehen und damit längst Teil unser aller Geschichte geworden ist.

Im kollektiven Gedächtnis haben diese, in zweierlei Hinsicht historischen, Verbrechen jedenfalls eine nicht auslöschbare Erinnerung und in der kollektiven Erinnerung einen, wenn man so will, immerwährenden Zeitzeugen dafür, wozu eine menschenverachtende, größenwahnsinnige Gesinnung, noch dazu, wenn sie sich zu einer mehrheitsfähigen Doktrin zu erheben vermeint, die scheinbar - wenigstens zeitlich begrenzt - allgemeine Gültigkeit besitzt, fähig ist: Den Plan zu realisieren, alle europäischen Juden "im deutschen Einflussgebiet" zu ermorden, dafür u.a. Konzentrations- und Vernichtungslager zu errichten, in denen "die Judenfrage" einer endgültigen Lösung zugeführt werden sollte.

An diesen historischen Grundlagen gibt es nichts zu rütteln, es handelt sich um Tatsachen.

Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/china-gibt-festhaltung-von-uiguren-in-lagern-zu-15843454.html

Was mich allerdings verwundert ist das Verhalten einzelner Spitzenparteipolitiker, wenn es um das kollektive Einfordern eines nationalen "sich erinnern Müssens" geht, wenn Österreich, also wir alle, "vollumfänglich" eine historische Verantwortung zu übernehmen hätten. Ein Karl Nehammer oder Alexander Schallenberg mögen das, privat oder in Ausübung ihrer Funktionen, tun, das bedeutet aber weder für mich noch für andere, das ebenso zu sehen bzw. handzuhaben.

Niemand muss sich erinnern, niemand muss sich verantwortlich und erst recht nicht schuldig fühlen, es sei denn, er hätte - in welcher Funktion auch immer - an der perfiden "Endlösung" mitgewirkt. Sich an das, zeitlich betrachtet, Vergangene zu erinnern ist die private Angelegenheit jeden Einzelnen - man sollte Erinnerung nicht vorschreiben, gleichsam zur Maxime erheben, um daraus allenfalls auch noch künstlich ein kollektives Schuld- oder Rechtswidrigkeitsbewusstsein konstruieren oder ableiten zu wollen.

Das kollektive Gedächtnis vergisst nicht, das kollektive Gedächtnis vergisst nie - das kollektive Gedächtnis ist uns allen gemein.

Wenn Nehammer meint, sich beim israelischen Außenminister für die Ermordung dessen Großvaters im Konzentrationslager Mauthausen entschuldigen zu müssen, ist das seine höchstpersönliche Angelegenheit, seine Ansicht darüber, wie sich ein offizieller Repräsentant Österreichs scheinbar verhalten soll, muss oder kann.

Das offiziell im Namen Österreichs, stellvertretend für uns alle, zu tun, ist mE jedoch nichts anderes, als völlig sinnentfremdet und gänzlich missverständlich zu bekunden, stillos davon überzeugen zu wollen, was man gemeinhin unter wertschätzendem Respekt oder Mitgefühl gegenüber nationalsozialistischen Regimeopfern verstehen könnte.

Quelle: https://www.nzz.ch/international/china-cables-enthuellen-internierung-und-verfolgung-von-uiguren-ld.1524142?reduced=true

Zweifelsfrei ist die Geschichte Österreich als Teil des nationalsozialistischen deutschen Reiches untrennbar mit unserer heutigen Republik verbunden; das kann aber nicht dazu führen, von uns, den Staatsbürgern, zu verlangen, wir müssten, wenn auch "nur" in Erinnerungen, immerwährend das Gefühl einer Mitverantwortung, gar Mitschuld mit uns herumtragen, um ja nicht zu vergessen, was vor rund 75 Jahren geschehen ist.

Dass man der Opfer, wenn man das will, respektvoll gedenkt, ist das eine; es ist aber ohnedies nicht zu befürchten, wir würden die Gräueltaten der NS-Diktatur so schnell vergessen, aus unserer kollektiven Erinnerung verdrängen können; dies nicht zuletzt aufgrund der, nach wie vor, global vorhandenen, menschenverachtenden Politik mancher zweifelhaften Gestalten, die an den Hebeln der Macht sitzend meinen, selbst im Licht der Öffentlichkeit gänzlich unbehelligt gegen all jene vorgehen zu können, die aufgrund ihrer Herkunft, Abstammung, Denkweise, Religion oder sonstigen, willkürlich ausgewählten Kriterien nicht zum gewünschten Staatsvolk und damit auch nicht zum Kreis derer gehören, die man schützen oder zumindest überleben lassen sollte.

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000118471212/der-demografische-genozid-an-den-uiguren-in-china

Kein noch so perfides System wäre mit dem nationalsozialistischen Hass auf alles Jüdische vergleichbar; erinnert sei aber zumindest an die Internierungs-, Umerziehungs- und Arbeitslager in China, Russland und einigen anderen Staaten in Asien und Afrika, über die man selbst dann kaum etwas hört oder liest, wenn deren reales Vorhandensein über jeden Zweifel erhaben ist. Die dortigen Zustände, Massenvergewaltigungen, Zwangsabtreibungen und -sterilisationen, werden von der Weltöffentlichkeit zwar angeprangert - dagegen unternommen wird aber so gut wie nichts. Man nimmt das mehr oder minder schweigend, damit duldend hin, sieht aus sicherer Entfernung zu, ergreift auch nicht Partei für die Betroffenen, geschweige denn ist für diese Hilfe oder ein Ende in Aussicht. Obwohl alle es wissen, unternimmt niemand etwas dagegen - um dann, bestenfalls in ein paar Jahrzehnten, sofern der Spuk tatsächlich vorbei sein sollte, die unbeteiligte Bevölkerung davon in Kenntnis zu setzen, sie möge sich daran erinnern, dürfe nicht vergessen, damit man den Opfern gerecht werden und künftig solche Gräuel verhindert könne - so etwas dürfe jedenfalls nie mehr geschehen, wird es dann wieder heißen.

Angemessenen Respekt gegenüber den Millionen NS-Regimeopfern könnte man diesen durch nichts besser entgegenbringen, als jenen zu helfen, die ansatzweise ein ähnliches Schicksal erleiden könnten wie die jüdische Bevölkerung im dritten Reich; dadurch wäre man auch in der Lage unter Beweis zu stellen, dass man aus der Geschichte etwas gelernt hat und es sich bei Mitgefühlsbekundungen nicht um bloße Lippenbekenntnisse handelt.

Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/asien-und-ozeanien/hunderte-uigurenlager-in-china-entdeckt/story/27287131

Davon sind aber diejenigen, die seit 2005 am 27.01. eines jeden Jahres im Licht der Öffentlichkeit an diversen Gedenkstätten in den ersten Reihen stehen, meilenweit entfernt. So scheint sich zwar momentan nicht die Geschichte zumindest aber das perverse Treiben von Despoten und Diktatoren problemlos wiederholen zu können - in Kenntnis der nicht zu leugnenden, bewiesenen Tatsachen und, das ist das Bedenklichste, im schrägen Licht der globalen Öffentlichkeit.

Man könnte sich ob dieser Situation die Frage stellen, warum man nach den von der Leyens, Macrons, einem Olaf Scholz oder einer Fr. Baerbock, aber auch einem Karl Nehammer oder Hr. Schallenberg in den vordersten Reihen des Widerstands vergeblich sucht; allenfalls deshalb, weil man sich erst dann erinnern will und nicht mehr vergessen darf, wenn der Anlass dafür bereits ein weiteres Kapitel der globalen Geschichte zu Ende geschrieben hat und dieses folglich als abgeschlossen betrachtet werden kann.

Aufforderungen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit sofort einzustellen sind, sind bei weitem zu wenig, um sich aus der politischen Mitverantwortung herausstehlen zu können - dazu bräuchte es ein entschlossenes Handeln, das jedoch weit und breit nicht zu sehen ist; viel angenehmer ist es ja, sich diplomatisch-devot zurückzuhalten, zuzusehen und sich erst posthum um Wiedergutmachung zu bemühen, um das dann scheinheilig "Erinnerungskultur" bezeichnen zu können.


Chr. Brugger

31.01.2022