Was gesagt werden darf
Nicht zum ersten Mal erregt ein Politiker mit Aussagen Aufsehen; die breite Öffentlichkeit reagiert darauf aber so, als hätte es so etwas noch nie gegeben.
Es gehört, ob einem das passt oder auch nicht, zum Image eines Politikers, sich (privat oder öffentlich) u.a. verbal zu äußern. In Österreich hat sogar Jedermann das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder durch bildliche Darstellung seine Meinung (innerhalb der gesetzlichen Schranken) frei zu äußern und da, zumindest vor dem Gesetz, alle Staatsbürger gleich sind, hat auch jeder Politiker eben das Recht, zu sagen, was und wie es ihm beliebt.

Quelle: https://www.krone.at/3122977#fb-10555-df2b71f6
Insofern kann man auch Karl Nehammer nicht vorwerfen, er habe etwas getan oder gesagt, was er verbotenerweise nicht gedurft hätte – er darf sagen, was er eben zu sagen hat oder sagen will.
Der größere Teil dessen, was man gemeinhin als Öffentlichkeit bezeichnet, echauffiert sich seit gestern über die Aussagen Nehammers anlässlich einer, scheinbar parteiinternen, Zusammenkunft im salzburgerischen Hallein; selbst wenn man seinen dortigen Aussagen (aus welchen Gründen immer) nichts abgewinnen oder diese missbilligen kann, war sein Handeln lege artis: Nehammer hat, soweit ich das beurteilen kann, zumindest niemanden (strafrechtlich relevant) beleidigt – andernfalls käme ihm aber (aushilfsweise) jedenfalls die Unschuldsvermutung zugute; auch Betriebsgeheimnisse hat er (was ebenfalls strafbar wäre) offenbar nicht ausgeplaudert.
Nun war das, was Nehammer in Hallein zu sagen hatte, vermutlich nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht, sondern einem erlesenen Kreis von Parteigenossen vorbehalten, die bei einem gemütlichen Stelldichein in den Genuss der Ausführungen ihres Parteiobmannes kommen sollten – und vor einer Schar Gleichgesinnter redet man eben manchmal anders als bei einem offiziellen Anlass.
Toll, dass einer der Anwesenden das, was Nehammer zu sagen hatte, aufgezeichnet hat und für dermaßen beeindruckend gehalten haben muss, nicht umhinzukönnen, das Gehörte mit anderen zu teilen – bis letztlich ganz Österreich endlich erfahren konnte, was sein derzeitiger "Bundeskanzler" über die nicht vorhandene Kinderarmut in diesem Land, die hohen Teilzeitbeschäftigungsquoten der Frauen dieses Landes, die unerträgliche Sozialpartnerschaft dieses Landes und die Arbeitsmoral der (arbeitslosen) Haberer und arbeitsscheuen Frauen dieses Landes so alles (aus leidiger Erfahrung) zu berichten weiß.
Die Videobotschaft des Karl Nehammer endet dann mit dem bemerkenswerten, bislang kaum beachteten, Hinweis darauf, wie sehr er doch, als "gelernter ÖVP-ler" darunter leide, dass die Sozialpartner (Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer, Arbeiterkammer & Gewerkschaftsbund) alles nur blockierten und er, schon gar nicht mit einer linksalternativen Partei als Koalitionspartner, an diesem "System" ("die Gewerkschaft ist der Sturm", "Teilzeitwahnsinn", Verwaltung im AMS, Blockade der Rot-Weiß-Rot – Karte durch die Sozialpartner) etc.) nichts ändern könne - diese Argumentation ist nicht von der Hand zu weisen.
Nehammer richtet also den Sozialpartnern und damit auch seinen eigenen Parteimitgliedern und Verbündeten (Interessenvertretung der gewerblichen Landwirtschaft samt gesetzlicher Vertretung aller Land- und Forstwirte) aus, wie sehr er unter ihnen bzw. ihrer Verbohrtheit leide; was man bei den (überwiegend sozialdemokratischen) ArbeitnehmerInnen-Vertretern (ÖGB & Arbeiterkammer) allenfalls noch verstehen könnte, klingt beim schwarzen Teil der Sozialpartnerschaft zwar etwas befremdlich, ist aber scheinbar so.
Und in einer Koalition, die sich (so oder so) ohnedies dem Ende zuneigt und keinerlei Chancen auf eine Fortsetzung hat, ist es einerlei, dem Partner auszurichten, was man von ihm hält.

Quelle: https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/6325941/McDonalds-und-DDR_So-reagiert-das-Netz-zum-geleakten-NehammerVideo
Allen Frauen dieses Landes, die entweder gar nicht oder lediglich teilzeitmäßig arbeitend dem "Teilzeitwahnsinn" frönen, auszurichten, sie sollten doch endlich mehr arbeiten, ist durchaus legitim; vor allem dann, wenn diese Frauen sich auch noch darüber beklagen, kein oder zu wenig Geld zu haben – dann müssen sie eben, von Nehammer logisch konsequent zu Ende gedacht, einfach mehr arbeiten; und wer sich kein Schnitzel leisten kann, muss halt mit einen Burger von McDonalds & Pommes Vorlieb nehmen.
All das (und auch noch anderes) darf gesagt werden – auch und gerade von Karl Nehammer, dem "Bundeskanzler" dieser Republik; wer, wenn nicht er, wäre prädestinierter, den arbeitsscheuen Menschen dieses Landes die Leviten zu lesen? Wem, wenn nicht ihm, steht es zu, die Sozialpartnerschaft in Frage zu stellen und deren dreiste Gepflogenheiten anzuprangern? Und wer, wenn nicht er, muss es am besten wissen, dass es in Österreich keine Kinder geben kann, deren Eltern sich ein "normales" Essen nicht leisten können?
So schaut´s aus, liebe Leserinnen & Leser, so und nicht anders!
All jenen aber, die im Laufe des gestrigen Tages dem Irrtum unterlagen, Karl Nehammer würde sich ob des von ihm in Hallein zum Besten gegebenen bei irgendjemanden entschuldigen, sei gesagt: Ein Nehammer irrt sich nicht und steht auch noch Monate später zu seinem Stammtischwort! Auf ihn ist Verlass – in allen Lebenslagen; im Unterschied zu allen anderen glaubt er an sich, seine ÖVP & deren JüngerInnen und, das ist das Wichtigste überhaupt: Er glaubt an unser Österreich – verstanden?
Ich bin, wenn es um die Kritik an den uns Regierenden geht, prinzipiell weder zimperlich noch wortkarg; je öfter ich mir allerdings die beiden Nehammer-Frohbotschaften, also das "Hallein-Video" und seine gestrige "Beharrung" ansehe, desto weniger fällt mir dazu ein.
Frei nach Alfred Hrdlicka "Mir fällt nichts ein. Mir fällt was auf": Ich bin, was seltener vorkommt als ein Vulkanausbruch am Großglockner, dermaßen beeindruckt, dass mir für Nehammers wortgewaltig profunde Bestandsanalyse ganz essenzieller Bereiche des heimischen Sozialgefüges schlicht (im Unterscheid zu ihm) die Worte fehlen; vermutlich ist deshalb auch er immer noch unser Bundeskanzler und nicht ich oder ein anderer.
Chr. Brugger
29/09/2023