Von der Leyen und der Sofaskandal
Sie sei brüskiert worden, gedemütigt, als Frau minderwertig behandelt; abseits hätte sie sitzen müssen, auf einem Sofa - kein Stuhl für Ursula von der Leyen. Was muss denn da an Schlimmem alles passiert sein?
Eigentlich ist das Ganze relativ einfach erklärt: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie Ratspräsident Charles Michel sind am 06.04.2021 gemeinsam zu einem Besuch in die Türkei gereist; Ziel war Ankara, die Hauptstadt der Türkei; Recep Tayyip Erdoğan wollte man treffen, den Staatspräsidenten der dortigen Republik.
Im Vorfeld dieses Treffens hat sich von der Leyen durchaus angriffslustig, "auf Krawall gebürstet", geäußert: "Man könne die Zollunion vertiefen, wenn Ankara Bedingungen erfülle; wenn sich Türkei nicht weiter konstruktiv verhält, wenn sie wieder zu den Provokationen im östlichen Mittelmeer zurückkehrt, dann werde die EU das Kooperationsabkommen stoppen".
Mit Wirtschaftshilfen locken und gleichzeitig mit Strafen drohen - eine, medial und im Vorhinein angekündigte, doch recht eigenwillige Doppelstrategie. Speziell vor dem Hintergrund der bekannten Tatsache, dass der Gesprächspartner Erdoğan heißt, der im März den Austritt aus dem Istanbuler-Abkommen erklärt und überdies längst angekündigt hat, die türkische "Erdgasmission" in der Ägäis weiter fortsetzen zu wollen.
Vor dem Besuch hätte sich Frau von der Leyen allenfalls bemüßigt fühlen sollen, sich die, ohnedies rundum bekannten, Äußerungen Erdogans zum Thema "Frauen" zu Gemüte zu führen: "Für mich ist eine Frau vor allem eine Mutter"; berufstätige Frauen würden durch den Kapitalismus versklavt; "man kann Frauen nicht befreien, indem man die Idee von der Familie zerstört". Erdogan verurteilt Abtreibungen, die Pille danach sowie Kaiserschnitt-Operationen und vertritt die Ansicht, dass eine völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau unnatürlich sei. Seine Frau Ermine bezeichnet den Harem als Schule fürs Leben.
All dessen ungeachtet, sollte es, auch auf Anraten von Bundeskanzlerin Angela Merkel, von Seiten der EU-Spitzen zu einem "Entspannungsangebot" an die Türkei kommen: Trotz Austritt aus dem Istanbuler Abkommen, trotz der in Aussicht gestellten weiteren militärischer Präsenz der Türkei im östlichen Mittelmeer, trotz anhaltender Missachtung des Abkommens betreffend das EU-Mitglied Zypern, weil dir Türkei die Inselrepublik völkerrechtlich gar nicht anerkennt, trotz anhaltender Menschenrechtsverletzungen, trotz erheblicher Demokratiedefizite.
Unter diesen Prämissen sind also von der Leyen und Michel nach Ankara gereist; dort ist es dann, abseits ergebnisloser Besprechungen, zu einer "unliebsamen" Szene gekommen, die seit Tagen unter der Marke "Sofagate" firmiert. Bei #GiveHerASeat kann man sich die Kommentare zu dieser absolut burlesken Farce durchlesen (zur Erklärung: "gate" wird als Suffix (Nachsilbe) für "Skandal" verwendet und war im Jahr 2013 der Anglizismus des Jahres).
Besser als Nikolas Busse (FAZ vom 08.04.2021) kann man diesen hausgemachten "europäischen Schwachsinn" nicht beschreiben:
"Haben die sonst nichts zu tun?
In Brüssel ist man empört darüber, dass Kommissionspräsidentin von der Leyen in Ankara angeblich auf den falschen Platz gesetzt wurde. Das ist ein alter und dummer Streit.
Es fällt einem spontan so einiges ein, was man machen könnte, wenn man Politiker in der EU wäre. Man könnte sich zum Beispiel darum kümmern, dass 450 Millionen Bürger in Europa schneller an Impfstoffe gelangen. Man könnte versuchen, die Migration besser in den Griff zu bekommen, die den Kontinent seit vielen Jahren an den Rand der Überforderung bringt.
Oder man könnte etwas dafür tun, dass die EU-Staaten militärisch besser zusammenarbeiten, weil man ja nicht so recht weiß, ob das mit dem Schutz durch die Amerikaner in Zukunft wirklich noch so klappt.
Aber das ist nicht der Stoff, der in der Brüsseler Blase für Bewegung sorgt. Nein, da muss schon etwas viel Schlimmeres geschehen: Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde auf den falschen Stuhl gesetzt. Genauer gesagt war es ein Sofa, das ihr im türkischen Präsidentenpalast zugewiesen wurde, während der Ratspräsident Charles Michel auf einem der goldverzierten Stühle zu sitzen kam, die Erdogan dort für seine Audienzen bereithält.
Selbst zwei Tage danach hat sich das Brüsseler Establishment noch nicht von dieser gefühlten Anmaßung erholt. Die beiden größten Fraktionen im Europaparlament fordern sogar eine Plenardebatte über den protokollarischen Anschlag, den die Türkei da angeblich begangen hat. Die Vorsitzende der Sozialdemokraten, eine Spanierin, sprach vom zentralen Respekt vor "Menschenrechten einschließlich Frauenrechten", die da ihrer Meinung nach verletzt wurden.
Mal abgesehen davon, dass man in vielen Weltgegenden wahrscheinlich froh wäre, wenn Menschenrechtsverstöße aus Sitzordnungsfragen bestünden, ist die Sache nicht ganz so eindeutig, wie das viele Empörte in Brüssel glauben. Die Auseinandersetzung darüber, wer protokollarisch höher steht, der Kommissionspräsident oder der Ratspräsident, ist so alt wie die beiden Ämter.
Über zwei frühere Inhaber, José Manuel Barroso und Herman van Rompuy, erzählte man sich nur halb im Scherz, dass sie sich darüber stritten, wer zuerst durch eine Tür gehen dürfe. Als die EU den Friedensnobelpreis bekam, wurde es noch komplizierter, weil da auch noch Parlamentspräsident Martin Schulz ins Spiel kam. Wochenlang beschäftigte man sich mit der Frage, wer den Preis entgegennehmen dürfe. Die salomonische Lösung lautete: Barroso und Van Rompuy hielten die Dankesrede gemeinsam, Schulz bekam die Medaille. Immerhin gab es drei Stühle im Osloer Rathaus, kein Sofa.
Formal gilt das, was ein EU-Diplomat sagte: Die EU ist eine Union von 27 Mitgliedstaaten, deren Vertreter somit den höchsten protokollarischen Anspruch hat. Die EU-Kommission wird eingesetzt von den Staaten (und vom Parlament), rangiert also eine Stufe niedriger. Das erklärt zwar noch nicht, warum der türkische Außenminister auch auf einem Sofa Platz nahm, weil der ja als Minister noch mal unter von der Leyen steht. Aber wer will sich schon um den zweiten Rang streiten?"
Auf den Zug des Brüsseler Establishments ist, das war nicht anders zu erwarten, auch unsere Europaministerin Karoline Edtstadler aufgesprungen. "Die respektlose Behandlung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ein zutiefst befremdliches Bild vermittelt und kann - wenige Tage nach Aufkündigung der Istanbul-Konvention - wohl nur als Provokation verstanden werden". Das ist aber für eine systemtreue, ab und an recht unbedarft dahinplappernde "Schaufensterpuppe", noch lange nicht genug. Das Verhalten des türkischen Präsidenten dürfe jedenfalls nicht folgenlos bleiben; Erdogan habe "vor laufender Kamera gezeigt, was er von Frauenrechten hält, ja wie er Frauen behandelt." Das müsse Konsequenzen haben - "auch in der Härte der Verhandlungsführung" im laufenden Dialog mit Ankara; Europa dürfe nicht als Bittsteller auftreten. "Es ist höchste Zeit, dass Europa sich seiner Stärke bewusst wird. Auch in der Migrationsfrage werden wir uns nicht von Erdogan erpressen lassen".
Wenn man sich das von Edtstadler zum besten Gegebene, was ob dessen Bedeutungslosigkeit ohnedies schon grenzwertig ist, eingehender zu Gemüte führt, darüber nachdenkt, was denn die realistischen Konsequenzen sein könnten (von denen Edtstadler - auch das fügt sich nahtlos in ihr Gesamtbild ein - kein Wort verliert), mit denen man Erdogan zu Raison bringen könnte, dann gibt es nur eine einzige Möglichkeit: Man müsste dem türkischen Staatspräsidenten zur Kenntnis bringen, dass man sich an die Vereinbarung vom 18.03.2016 ("Flüchtlingsdeal") nicht weiter gebunden fühlt - mit allen damit verbundenen Konsequenzen.
So verbindlich gibt sich eine Karoline Edtstadler natürlich nicht; lieber vertraut sie auf die für sie so typische "Phrasendrescherei": Ein paar markige Botschaften, ein paar (sinn-) lose Forderungen, kein Wort darüber, wie man das "Problem Erdogan" tatsächlich lösen könnte.
Dass die Europäische Union, vor allem von der Türkei, noch immer recht einfach und ungeniert erpresst werden kann (speziell im Lichte des Inhaltes der Vereinbarung vom 18.05.2016), ist letzten Endes ausschließlich dem Unvermögen der Europäischen Union bzw. deren Protagonisten geschuldet. Die Europäische Union hat bei der Lösung des "Migrationsproblems" vollkommen versagt und ihr Unvermögen bei der Beantwortung "großer Fragen" ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Solange man sich dieses eigene Unvermögen nicht eingesteht, lieber mit hanebüchenen Schlagwörtern, abstrusen Anmaßungen oder dümmlich-naiver Nachplapperei durch die Landschaft zieht, wird die Europäische Union für einen Mann wie Erdogan ein willfähriger Spielball bleiben. Im Unterschied zu Europa hat Erdogans Türkei nicht viel zu verlieren - dessen sollte man sich, der eigenen Schwäche eingedenk, bewusst sein oder zumindest rasch werden.
Es hat den Anschein, dass die wichtigste Erkenntnis des Ankara Besuches mit "Sofagate" umschrieben werden kann.
Um das zu wissen hätte von der Leyen nicht unbedingt in die Türkei reisen müssen; ein 30-minütiger Crashkurs im Fach "Erdogan und die Frauen" hätte mit Sicherheit ausgereicht, in Ankara auf alle Eventualitäten gefasst zu sein - "Ähm" ist zwar jetzt in aller Munde; es wäre von der Leyen aber auch unbenommen gewesen, vom Sofa aufzustehen und den Raum zu verlassen bzw. sich gar nicht erst hinzusetzen. Das hätte uns allen den "Sofagate"-Schwachsinn erspart, Michel seine schlaflosen Nächte, Edtstadler ihre peinlichen Wortspenden und: In Brüssel hätte man derweilen arbeiten und nicht über die Sinnhaftigkeit einer Generaldebatte zu diesem Thema ("Anschlag auf das Protokoll") nachdenken müssen.
Im Angesicht der vorhandenen, tatsächlichen, Probleme ist die eventuell verletzte Eitelkeit von der Leyens eine Lappalie, die, nüchtern betrachtet, eigentlich unter jeder Wahrnehmungsgrenze liegen müsste.
Chr. Brugger
15.04.2021