Vierklassengesellschaft
Auch anlässlich der diesjährigen Australien Open in Melbourne tritt eines deutlich zu Tage: Das Feld der 128 Teilnehmer bei den Männern lässt sich ziemlich exakt in vier verschiedene "Klassen" einteilen.
Zum einen diejenigen, die mehr oder minder dazu beitragen, dass das "Starterfeld" auch tatsächlich komplettiert werden kann.
Dann gibt es eine, mittlerweile eine relativ große, Klasse der Aspiranten, irgendwann zur Weltspitze, der dritten Klasse, aufzusteigen. Dazu gehören beispielsweise Alexander Zverev, Stefanos Tsitsipas, Andrey Rublev, Denis Shapovalov, Karen Khachanov, Felix Auger-Aliassime und der Österreicher Dominic Thiem.
An der (tatsächlichen) Spitze des internationalen Tennisgeschehens thronen, seit mehr oder weniger fünfzehn Jahren, noch immer recht ungefährdet Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer.
Und dann gibt es noch eine vierte Klasse, der nur ein Tennisspieler angehört: Nicholas "Nick" Hilmy Kyrgios.
Während sich die zweite Klasse vor allem dadurch auszeichnet, durch körperliche Fitness, kraftvolles Grundlinienspiel und solides Basistennis aufzufallen, gewinnt die dritte Klasse seit geraumer Zeit fast ausschließlich die großen, die Grand-Slam-Turniere. So haben Djokovic, Nadal und Federer gemeinsam bislang 57 solcher Turniere der höchsten Kategorie gewonnen.
Das, was vor allem der zweiten Klasse fehlt, hat Nick Kyrgios (Klasse 4) beinahe verinnerlicht: Spielwitz, Exzentrik, mentale Stärke. Er zermürbt seine Gegner, so er will, mit atemberaubenden "Kunstschlägen", außergewöhnlichen tennis-technischen "Maßnahmen" (Aufschlag von unten, Schläge zwischen den Beinen hindurch, Stoppbällen der Extraklasse etc.). All das ist fast allen anderen vollkommen fremd. Sie setzen "stur heil" auf ihr andauerndes "Hämmern", lassen Taktik oder Spielstrategie meist gänzlich vermissen, warten überwiegend nur darauf, um gegen Ende der sportlichen Auseinandersetzung einen körperlich ermüdeten Gegenspieler endgültig zu besiegen.
Die Gemeinschaft der Zweitklassler hat mittlerweile eine beachtliche Anzahl erreicht. Diese Spieler sind - auf durchaus gutem Niveau - nicht nur deshalb kaum noch voneinander zu unterscheiden.
Trifft dann einer aus dieser Klasse auf Kyrgios, wie z.B. Thiem in Melbourne, erhellt sich, was den Unterschied ausmacht: Solange Kyrgios, der keinen großen Wert auf Trainer oder ein kontinuierliches Training legt, physisch dazu in der Lage ist, weiß der Gegenspieler scheinbar nicht mehr, wie ihm geschieht. Staunend, fast ohnmächtig und mit ungläubigen Augen, muss zur Kenntnis genommen werden, dass es gegen das Spiel des Australiers ganz einfach kein Mittel gibt.
Die üblichen, bekannten und angelernten Mechanismen haben keine Wirkung - nichts funktioniert mehr. Die Physis hat ihren Zauber verloren, das harte Training erscheint als vollkommen sinnlos. Kyrgios spielt auf (s)einer eigenen Klaviatur, der Rest hört oder schaut erstaunt zu. Das ist im Fernsehen durchaus amüsant mitanzusehen, hat wesentlich mehr Unterhaltungscharakter als die ansonsten zu betrachtende Einheitsversion. Vor allem Tennisspieler auf dem Niveau der zweiten Klasse sind nicht in der Lage, sich auf das kyrgiotische Spiel einzustellen; und dieses "Unvermögen" hinterlässt vor allem Spuren in der Psyche der davon Betroffenen.
Wenn Thiem nach dem Match davon spricht, er sei "in den ersten zwei Sätzen ein bisschen neben der Spur" gewesen, kann jeder, der das Spiel gesehen hat, diese Aussage nicht wirklich ernst nehmen, gar verstehen. Er wusste nicht, wie ihm geschieht, hatte kein Rezept für das "Virus" Kyrgios; die Spätfolgen dieser, von Thiem selbst als solche apostrophierten, "epischen Nacht", durfte Thiem zwei Tage später schmerzvoll verspüren: Völlig ermattet schied Thiem aus dem Turnier aus, musste seine Koffer packen und aus Melbourne abreisen. Es bleibt zu hoffen, dass die "epische Nacht" nicht auch noch psychische Spätfolgen für den Österreicher zeitigt.
Eine der Lehren aus dem Pyrrhussieg gegen Kyrgios könnte sein, dass er sich seinen Tenniskollegen, zumindest in Ansätzen, zum Vorbild nimmt, was dessen Benehmen inner- und außerhalb des Platzes betrifft. Er muss ja dabei nicht unbedingt als Enfant terrible in Erscheinung treten, Schiedsrichter oder Publikum beschimpfen und erst recht nicht auf dem Court mit Stühlen um sich werfen. Etwas mehr an Unverbindlichkeit stünde Thiem aber jedenfalls ganz gut zu Gesicht. Wer immer brav und anständig ist, wird irgendwann reizlos, erweckt den Anschein von kleinbürgerlicher Biederkeit; das wiederum kommt auf der "Weltbühne" Tennis auf Dauer nicht besonders gut an; es sei denn, man hieße Rafael Nadal und könnte mit dessen sportlichen Erfolgen aufwarten. Davon ist Thiem aber noch so weit entfernt, dass zu befürchten ist, er würde diesen Status nie erreichen.
Abschließend und Thiem zum Trost: Kyrgios hat selbst gegen den Klassenprimus Djokovic eine Head-to-Head Bilanz von 2:0.
Chr. Brugger
15.02.2021