Über Berichtenswertes und Unbedeutendes

07.04.2022

Allerorts, beinahe schon global, echauffiert sich die Öffentlichkeit, im Besonderen westlich orientierte Politiker, über die mutmaßlichen Kriegsverbrechen von russischen Soldaten in der Ukraine.

Quelle: https://www.n-tv.de/politik/Dutzende-Tote-verschleppte-Ermittlungen-article20998630.html

Von Massakern ist die Rede, gar das Wort Genozid wird bemüht, Gemetzel seien angerichtet worden, Zivilisten - noch dazu während eines Krieges - hätten erlitten oder erleiden müssen, was mit menschlichem Verstand kaum fassbar sei.

Die Täter müssten jedenfalls zur Verantwortung, vor Kriegstribunale gestellt, in Den Haag verurteilt werden.

Nun ist das, was offensichtlich in der Ukraine geschehen ist und dort immer noch geschieht verabscheuungswürdig, grausam und kriminell, schwer vorstellbar.

Das Massaker von Butscha sei, so der ukrainische Präsident Selenskyj, durchaus mit anderen Massakern vergleichbar, beispielsweise dem von Guernica im spanischen Bürgerkrieg von 1937; der Komiker aus Kiew richtet all denen, die es hören wollen oder auch nicht, in diversen Parlamenten zudem aus, man müsse Russland mit militärischen Mitteln besiegen, stilisiert Butscha manchmal so hoch, als könne man das dortige Geschehen sogar mit dem nationalsozialistischen Völkermord an mehreren Millionen europäischer Juden in Zusammenhang bringen.

Quelle: https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-europarat-kritisiert-ermittlungen-zu-strassenschlachten-a-1060987.html#fotostrecke-dd62764d-0001-0002-0000-000000131594

Klar sei in jedem Fall, so das zusammengefasste Resümee der europäischen Politprominenz, dass sich die russische Armee dafür zu verantworten hätte; um sich das Ganze vor Ort ansehen zu können, reisen in den nächsten Tagen einige europäische "Politspitzen" gar ins Ukrainische; ein "Bild" wolle man sich machen, so der einhellige Tenor, vor Ort mit dem Berufskomiker erörtern, wie denn weiter vorzugehen sei.

Zur illustren Runde der Kiew-Pilger zählt neben der Kommissionspräsidentin U.v.d.L. auch der heimische Klassenprimus Charly "the hammer". Es hat den Anschein, als ließe sich nicht nur im Krieg das nachhaltig angekratzte eigene Image ein wenig aufpolieren, vielmehr noch ließe sich idealiter in einer "rückeroberten" Hauptstadt, in der von frischen Blutflecken umgebene Leichen den Weg pflastern, im Wege propagandistisch anmutender Selbstinszenierung das Mitleid (ob des ansichtig Gewordenen bzw. des vom Hörensagen her Bekannten) noch besser zur Schau stellen.

Diese Absichten helfen den Ermordeten nicht mehr, auch nicht deren Hinterbliebenen, Freunden oder Bekannten, auch nicht den tausenden Soldaten, die sich vor allem im Osten und Süden der Ukraine nach wie vor im Krieg befinden; von moralischem Beistand haben jedenfalls all jene nichts, die an den Folgen der kriegerischen Perversionen am meisten leiden. Zur Aufklärung der Gräueltaten werden Uschi & Co wenig beitragen und direkten militärischen Beistand nicht versprechen können; und um an Sanktionsschrauben zu drehen, müssten die wagemutigen Politiker nicht unbedingt auf Reisen gehen.

Quelle: https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-europarat-kritisiert-ermittlungen-zu-strassenschlachten-a-1060987.html#fotostrecke-dd62764d-0001-0002-0000-000000131594

Wie auch immer, manchen wird das Handeln von der Leyens und Nehammers imponieren, anderen missfallen, ein Teil wird das als groteske Show, als unnütz und effektheischend abtun.

Mir hingegen stellt sich in diesem Zusammengang leider eine ganz andere Frage: Wo waren bzw. sind die Nehammers, von der Leyens und wie sie sonst alle heißen mögen, wenn sich Ähnliches in Afrika ereignet (hat)?

Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/voelkermord-in-ruanda-chronik-des-versagens-1.1929862

Beispielsweise im Westen Äthiopiens, wo solche Massaker "regelmäßig", zuletzt 2020 und 2021, stattfinden; im Südwesten Nigers im März 2021; in Zentralmali am 05.04.2022(!); in Burkina Faso im Juni 2021; den Völkermorden in Ruanda und im Sudan.

Wo waren bzw. sind die Nehammers, von der Leyens und wie sie sonst alle heißen mögen, wenn sich Ähnliches in Asien ereignet (hat)?

Beispielsweise in Mynamar, wo Tötungen und Vergewaltigungen seit Jahren zum Alltag zählen; bei den Massakern von Hula oder Idlib in Syrien; bei den zahlreichen Massakern israelischer Soldaten gegenüber der palästinensischen Bevölkerung; dem Völkermord in Kambodscha; dem jahrelang andauernden Genozid an Uiguren in China; dem Massaker an den Hazara-Männern, Frauen und Kindern und Babys in Afghanistan.

Quelle: https://kurier.at/politik/ausland/blutigster-tag-in-myanmar-seit-dem-militaerputsch/401218383

Es hat den Anschein, als seien die bei den zuletzt genannten "Ereignissen" ermordeten Zivilisten Massakrierte zweiter Klasse, als seien diese, geografisch betrachtet, zu weit von Europa entfernt, als dass man sich ihrer allenfalls annehmen sollte, müsste oder könnte; möglicherweise ist ein Trip in das Grenzland von Äthiopien hin zum Sudan auch zu beschwerlich oder zeitaufwendig; oder, was im schlimmsten Fall auch noch angenommen werden könnte: Ein Auftritt in Südwesten Nigers würde niemanden interessieren; nicht die europäischen "Spitzenpolitiker", nicht die mediale Weltöffentlichkeit und schon gar nicht die (dort nicht präsente) Weltwirtschaft.

Das, was als berichtenswert genug erscheint, findet politische Beachtung, zumal dann auch über Politiker berichtet wird; das hingegen, was unbedeutend genug ist, wird verdrängt, zumal man in diesen Fällen als Politiker nicht reüssieren, sein Profil nicht schärfen oder sein Image nicht aufpolieren kann.

Irgendwie klingt das nach einer kruden Moral bzw. gleicht einer absurden Überlegung; im Prinzip aber zumindest irgendwie logisch; speziell dann, wenn diese Logik ihr Verständnis politischem Kalkül zu verdanken hat.

So passt es gut ins Bild, dass von den Nehammers, von der Leyens & Co auch zur Tragödie von Odessa vom 02.05.2014 nichts zu hören war oder ist: Vor beinahe 8 Jahren ereignete sich die "Schande von Odessa", bei der 48 pro-russische Aktivisten von Ukrainern bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Obwohl die Bestialität gut dokumentiert ist, gibt es dazu bis heute (trotz vernichtender Kritik des Europarates) keine Aufklärung darüber.

Was schon damals den Westen nur am Rande interessierte, ist heute absolut in der Bedeutungslosigkeit versunken; eine Aufklärung passte (momentan erst recht) auch nicht in das vom Westen - unter Anleitung eines Komikers - gezeichnete Bild; selbst wenn es so wäre, interessierte es niemanden, ist das Ereignis vom Mai 2014 doch ohne jede Bedeutung, dazu auch viel zu lange her, als dass man sich daran erinnern möchte.

Auch die Betrachtung von Massakern folgt also immer einer bestimmten Logik, selbst dann, wenn diese politischem Denkvermögen geschuldet ist.


Chr. Brugger

07.04.2022