Stevie Wonder - Dream Still Lives

15.05.2020

Schon biographisch hat Stevie Wonder einiges zu bieten: kurz nach der Geburt erblindet, beherrschte er mit 9 Jahren Mundharmonika, Klavier und Schlagzeug; mit elf Jahren wurde er von "The Miracles", einer der einflussreichsten Soulgruppen, entdeckt, erhielt einen Plattenvertrag bei Motown Record Company, L.P., nahm mit 12 Jahren die ersten Schallplatten auf.

"You Are the Sunshine of My Live" und "Superstition" wurden seine ersten großen Hits. Noch in den siebziger Jahren schuf Wonder mit "Innervisions", "Fulfillingness´ First Finale" sowie den Songs in "The Key of Live" seine wirkungsvollsten Alben. Dabei wäre er 1973 bei einem schweren Verkehrsunfall beinahe gestorben.

1979 erwarb er den Radiosender KLJH, der heute noch zu einem der beliebtesten "Schwarzen Radiosender" der USA zählt.

1982 erschien (gemeinsam mit Paul McCartney) das Lied "Ebony and Ivory" (Ebenholz und Elfenbein) - bis heute hymnisches Synonym für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe.

Neunzehnhundertvierundachtzig erschien "I just Called to Say I Love You", der Soundtrack zum Film "Die Frau in Rot"; Kelly LeBrock (Charlotte, "The Woman in Red") mutiert dank ihrer Rolle im Film zum Sexsymbol, Stevie Wonder gewinnt für den Song 1985 den Oscar sowie den Golden Globe Award.

Im Rahmen seines, bis heute anhaltenden, Engagements für die Gleichberechtigung von Afroamerikanern war er maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Geburtstag von Martin Luther King (geb. 15.01.1929) seit 1986 in den USA ein Feiertag ist. Seinen Oscar aus dem Jahr 1985 widmete er dem südafrikanischen Rassentrennungsopfer Nelson Mandela. 1989 wurde er für seine Verdienste um die Soul-Musik in die "Rock and Roll Hall of Fame" aufgenommen, seit 2009 ist er UN-Botschafter des Friedens. 

Wonder trat gemeinsam mit den Rolling Stones, Michael Jackson, George Michael, Tom Jones, Prince, Tony Bennett, Andra Day und anderen Größen der Pop- und Soulszene auf, hielt Reden bei den Begräbnissen von Michael Jackson und Whitney Houston, trat dort, ebenso wie anlässlich des diamantenen Regierungsjubiläums der Queen im Buckingham Palace, auf. Er lebt in dritter Ehe mit Tomeeka Robyn Bracy, hat neun Kinder mit 6 Frauen und lebt seit 2014 vegan.

Wenn man nun die Gratulationen zu seinem heutigen siebzigsten Geburtstag liest, könnte man glauben, es handle sich bei Stevie Wonder um ein Weltwunder moderner Ausprägung.

Bei Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung klingt das auszugsweise so:

"Stevie Wonder, der Hohe Priester der Pop-Musik. (...) Die musikalischen Urkräfte können nämlich zu einem reissenden Fluss werden durch die Klippen der Leidenschaft. Emotion und Mission generieren dabei einen Hochdruck an Soul und Funk, dem kein Ventil gewachsen scheint. Dann schwankt der Sänger zwischen süssem Pathos und religiöser Ekstase. Am Piano sieht man Stevie Wonder dann erzittern unter den Schockwellen rhythmischer Elektrizität. Er lässt den Kopf wiegen im Nacken, mit ächzendem Lächeln blickt er blind in die Weiten seiner musikalischen Phantasie. Gleichzeitig schwimmen die Finger durch die schwarz-weisse Klaviatur und suchen sich am Heck eines Hits, am Bug eines Gospels festzukrallen. Wenn seine geschmeidige Stimme aber den Refrain findet und feiert als frohe Botschaft, dann triumphiert der schwitzende Musikerpriester über die elementaren Impulse seiner Inspirationen. (...) Mit Alben wie «Talking Book» (1972), «Innervision» (1973), «Fulfillingness' First Finale» (1974) und «Songs In The Key Of Life» hat sich Stevie Wonder als das überragende Pop-Genie der Dekade ausgewiesen. Es ist ihm gelungen, dem reichen Erbe afroamerikanischer Musik eine neue Gestalt zu geben. Er hat den Soul aufgefrischt mit federnden Latin-Grooves und mit den Sounds der Rock-Rebellen. Er hat die Rhythmik geschickt gebündelt, um Raum zu schaffen für seinen herzerwärmenden, oft mehrstimmig arrangierten Gesang, der zwischen balladesker Innigkeit und fiebriger Inbrunst variiert. Er hat die schwarze Pop-Musik dabei einem farbenblinden Publikum zugänglich gemacht, ohne die Tradition zu bleichen oder zu verwässern. (...) Er hat die schwarze Pop-Musik dabei einem farbenblinden Publikum zugänglich gemacht, ohne die Tradition zu bleichen oder zu verwässern. (...) Unterdessen hatten Hedonismus und Materialismus die Ideale der Bürgerrechtsbewegung und der Hippie-Generation unter sich begraben. Der singende Missionar aber, zuweilen als heiliger Narr verspottet, träumte noch von Hippie-Feten und Afro-Romantik, von spiritueller Befreiung und politischer Gerechtigkeit. (...) Seine mitreissenden Songs jedoch waren trojanische Schlachtrösser mit kämpferischen Botschaften. (...)"


Man kann diesen Artikel von Bernays lesen, mögen, meiden; mir gefallen solche überladenen Wort- und Satzhülsen nicht; für mich sind es künstlich hochstilisierte, dem Tatsächlichen nicht gerecht werdende, Überzeichnungen. Wenn Wonder schon der Hohe Priester der Pop-Musik gewesen sein soll, was waren dann die Lennons, McCartneys, Jacksons, Springsteens, Cohens oder Dylans? Götter des Olymps, Reinkarnationen Beethovens, oder gar Jesus Christus höchstpersönlich?

Ginge es nach Bernays vermutlich der zuletzt Genannte: "Wie schrieb ein Kritiker schon 1973 nach einem Konzert in New York": «The only act who could have topped Stevie Wonder was Jesus Christ.»


Ganz anders klingt das bei Stevie Wonder selbst; in einem Interview im "The Guardian" (30. August 2012) äußert er sich dazu, wie er sein Tun betrachtet. Dezent zurückhaltend, vor allem aber realistisch - damit relativiert er bereits im Vorhinein das ihm angedichtete Verdikt, sein Genie sei quasi ein ganzes Jahrzehnt lang laufend explodiert.


Er erlerne ein neues Instrument, Harpejji, das zwischen Klavier und Gitarre angesiedelt sei, schreibe viele sehr unterschiedliche Songs; die Frage sei, ob ihn diese überleben würden. Er spüre eine drängende Notwendigkeit, sich Themen fernab der Musik zu widmen. Vor dem Hintergrund des Amoklaufes von Aurora im US-Bundesstaat Colorado im Juli 2012 beispielsweise mit dem Recht zu leben. Er spricht unverhohlen über Waffengewalt. Es sei beunruhigend, wie einfach der Zugang zu Waffen sei; kein Politiker aber trete dagegen auf.

Er fühle nach wie vor dieselbe Nähe zur "Straße" wie in den Siebzigerjahren, als er die sozialpolitische Hymne "Living For The City" verfasst hatte. Wenn Fans ihn fotografieren, überlege er, ob ihn das verärgere; dann erinnere er sich daran wie glücklich er damals war Menschen um sich zu haben, die sich für seine Karriere interessierten.

Bis zu seinem Unfall, als die Musik nahezu überschallschnell entstand, sprach er in furchteinflößenden Tönen über eine apokalyptische Zukunft; danach wurde er zunehmend positiver. Er selbst sei immer optimistisch, die Welt hingegen nicht. Die Menschen bräuchten einen Quantensprung, hin zu einer positiven Einstellung. Sie konzentrierten sich aber immer nur auf eine Person, die sie glücklich machen wollen. Es brauche alle. Die Denkweisen müssten unterschiedlich sein dürfen. Warum gibt es im Jahr 2012 in der Welt immer noch Rassismus? Solange die Menschen diesen Dämon in ihren Gedanken tragen, könne man den Rassismus nicht auslöschen. Man müsse mit seinem Herzen die Veränderung wollen, vorhaben, Armut, Hunger, Rassismus und Analphabetismus auszulöschen, Heilmittel gegen Krebs und Aids zu finden; das seien nur einige Aufgaben, die zu erledigen wären.

Blind zu sein habe er nie als Nachteil empfunden; er habe sich nie benachteiligt gefühlt, weil er schwarz sei. "Ich bin, was ich bin. Ich liebe mich. Ich meine das nicht egoistisch: ich liebe Gott dafür, dass er mir erlaubt hat das zu machen was immer ich wollte, daraus etwas zu machen." Auf die Frage, ob er sich manchmal einen egoistischen Moment erlaube, seine Karriere zu überblicken, antwortet er: "Nein, das ist nur verschwendete Zeit. Ich genieße es, meine Werke, die ich geschaffen habe, anzuhören, das ist es dann aber".

Ob er genial sei? "Nein, ich war nur vom Glück verwöhnt Ideen zu haben. Das Geniale in mir ist Gott - er ist es, der aus mir heraustrat. Ich habe nie behauptet, ein Soulkünstler zu sein, ein Rhythm and Blues Musiker."

Wenn man ihn damit konfrontiert, dass seine Musik in den Siebzigern eine Soulversion progressiven Rocks gewesen sei, antwortet Wonder, "das sind nur Produktbezeichnungen; wenn du Soul spielst, bist du schwarz, bei Pop weiß. Das ist Bullshit. Das ist wie ein alter Jerry Reed Song: Wenn du großartig bist, bist du großartig, wenn nicht, dann eben nicht."


Stevie Wonder, ein großartiger Musiker; in eben zumindest demselben Maß aber auch ein großartiger Mensch, dessen Weitblick vor allem von Empathie geprägt ist. In Erinnerung an Martin Luther King, dessen "I have a dream"-Rede, initiierte Stevie Wonder zum 50. Todestag des US-amerikanischen Bürgerrechtlers (04.04.1968) die Aktion "#DreamStillLives", um das Andenken an den Traum von einem Amerika ohne Rassismus wieder neu zu beleben.


Barneys unternimmt letztlich nur den Versuch, das großartige musikalische Werk von Wonder mit dessen manchmal spirituell eingefärbter Lebensphilosophie zu vermengen, in Einklang bringen zu wollen. Das funktioniert bei Stevie Wonder nur bedingt; zu klar ist dafür die Zäsur, die seit dem Verkehrsunfall (1973) mehr und mehr in den Vordergrund trat, die Trennlinie zwischen musikalischem Schaffen und dem, was den Künstler heute so sehr von anderen seines Genres unterscheidet. Dem bedingungslosen Einstehen für Werte und Prinzipien, unmissverständlich klaren Aussagen zu zentralen Bereichen des Lebens, dem anhaltenden Widerstand gegen nach wie vor nicht enden wollende Rassismen.


Christian Brugger

13.05.2020