Solidarität oder Selbstsucht?

21.01.2021

Wissenschaftlichen Studien zu Folge spaltet die COVID-19 Krise die Bevölkerung nahezu exakt in zwei gleich große "Lager"; der eine Teil ist "vernünftig", der andere "unvernünftig", der eine verhält sich "sozial", der andere hingegen "asozial".

Die, vor allem von der Politik, eingeforderte Solidarität, die gegenseitige Rücksichtnahme, letztlich der Respekt vor den Mitmenschen, das alles ist zu einem äußerst fragilen, mittlerweile längst aus dem Lot geratenen "Gefüge" geworden. Man könnte auch sagen, das soziale Gefüge befände sich in einer extremen Schieflage.

Das liegt zum einen daran, dass ein Gutteil der Menschen ihren Beitrag zu einer Verbesserung der Situation nicht wirklich sehen oder erkennen; sie gehen davon aus, keinen unmittelbaren Einfluss zu haben, die mittelbaren Beiträge (Befolgung der Inhalte von Gesetzen und Verordnungen) erfahren ein hohes Maß an Geringschätzung. Berichte über Corona-Partys, Demonstrationen ohne Einhaltung von Schutzmaskenpflicht und Abstandsregelung (im Beisein der Exekutive) tragen dazu bei, den mittelbar möglichen Beitrag noch geringwertiger erscheinen zu lassen.

Dazu kommt, dass wir es, im Unterschied zu anderen "Katastrophen" (Hochwasser, Lawinen etc.) mit einem vollkommen abstrakten Bedrohungsbild zu tun haben; das Virus ist nicht erkennbar, schwirrt unsichtbar im Raum, kann beinahe überall sein. Das führt zu einem Gefühl der Ohnmacht, des "nichts tun Könnens", zum Hinterfragen der Sinnhaftigkeit eigener Handlungsweise sowie der gesetzgeberischer Vorgaben.

Dazu kommt noch die von der österreichischen Politik zur Handlungsmaxime hochstilisierte "Salamitaktik"; kein nachvollziehbares, klares, langfristiges Konzept, vielmehr wöchentliche Überraschungspakte, Ankündigungen, die sich binnen weniger Tage in "Luft" auflösen (BM Faßmann ist in dieser Kategorie bereits ein Meister seines Faches). Was man Jörg Haider immer wieder vorgeworfen hat, ist neuerdings untrennbar mit dem politischen Alltag verbunden: Das Verwenden der sog. "clausula rebus sic stantibus", mit der auch schon Niccolò Machiavelli in seinem "Il Principe" reüssiert hat.

Wenn sich, bezogen auf eine bestimmte Aussage, irgendwelche, nahezu beliebige, Umstände ändern, dann ist auch die getätigte Aussage nicht mehr verbindlich. Mit diesem, dem römischen Recht entlehnten, juristischen Kunstgriff lässt sich jedes noch so eindeutige Statement fast willkürlich an eine, meist bereits im Vorhinein erwartete, neue Situation anpassen. Dieses merkwürdige Procedere mag zwar für die Protagonisten ein probates Mittel sein, fehlendes Durchsetzungsvermögen oder falsche, unrealistisch optimistische, Einschätzungen argumentativ elegant zu retuschieren, unbehelligt einen Schritt zurück gehen zu können. Für die Bevölkerung ist das andauernde Hin und Her, dieses orientierungslos anmutende Dahinlavieren, Belastung und Zumutung zugleich.

Dieser, als meanderhaft zu bezeichnende, Regierungsstil führt, zusammen mit den ohnedies bereits sehr starken psychischen Belastungen der Menschen (Verbot sozialer Kontakte, Ausgangsverbote, geschlossene gastronomische Betrieb und Kultureinrichtungen aller Art, weitgehend geschlossene Handelsbetriebe, Distanzunterricht an Schulen und Universitäten etc.), letzten Endes dazu, dass man immer mehr den Eindruck bekommt, jeder sei sich selbst der nächste, das eigene Schicksal, die eigene Gesundheit, der eigene Vorteil seien das Wichtigste und hätten Vorrang vor allen und allem anderen. Rücksichtnahme ist nicht mehr en vogue, Solidarität und Miteinander lediglich unliebsames Zierwerk, verstaubt-entartete, von letzter politischer Vernunft ins Spiel geworfene, Randerscheinungen.

Das ist möglicherweise auch mit ein Grund dafür, dass sich in den letzten Tagen die Meldungen darüber häuften, wonach in zahlreichen österreichischen Alten- und Pflegeheimen, denen "erste Priorität" zukommt, "Unregelmäßigkeiten" bei der ins Leben gerufenen Corona-Schutzimpfung aufgetreten seien.

Im Sinne der Vorgaben des zuständigen Ministeriums (Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) erfolgt die Impfung in Österreich im Rahmen der COVID-19-Impfstrategie auf Basis einer Empfehlung des Nationalen Impfgremiums zu Priorisierung, in der Zielgruppen aufgelistet sind (https:// www.sozialministerium.at/Corona-Schutzimpfung/Corona-Schutzimpfung.html).

Ziel und Zweck dieser Strategie sei es, sicherzustellen, dass "unter Berücksichtigung eingeschränkter Impfstoff-Verfügbarkeit die Rate der Neuinfektionen dauerhaft reduziert wird, schwere Krankheitsverläufe sowie Todesfälle vermieden werden und das Gesundheitssystem entlastet wird. Ebenso sollen mit Hilfe der Priorisierung die verfügbaren Impfstoffe möglichst gerecht sowie medizinisch sinnvoll und ethisch vertretbar eingesetzt werden."

Bei den vermeldeten "Unregelmäßigkeiten" geht es darum, dass nicht nur Personen aus der "Prioritätskategorie" 1 geimpft wurden, sondern auch andere Personen, die im Sinne der vom Nationalen Impfgremium festgeschrieben Priorisierung erst wesentlich später "an der Reihe" gewesen wären.

Dabei handelt es sich, welch Wunder, zu einem Gutteil um kommunalpolitische Amtsinhaber (z.B. Bürgermeister), die als Betreibervertreter von Alten- und Pflegeheimen scheinbar ein recht seltsames Spiel treiben.

Sie sind just zu jenem Zeitpunkt in den gemeindeeigenen Alten- und Pflegeheimen, zu dem dort die ersten Impfungen für Heimbewohner, Personal etc. ("erste Priorität") stattfinden. Immer bleiben Dosen übrig, die nicht mehr prioritätskonform verimpft werden können - die impfwilligen Politmandatare opfern sich gleichsam, damit der restlich verbliebene Impfstoff nicht vernichtet werden muss. Das ist die gängige Argumentationslinie der bislang bekannt gewordenen Nutznießer restlich verbliebener Dosen.

In der (sozial-) medialen Berichterstattung sieht das naturgemäß etwas anders aus; von "Vordrängen" ist die Rede, von Betrug an Mitmenschen, von Selbstsucht und "Missbrauch des Amtes". Manche gehen sogar soweit zu behaupten, es hätte finanzielle Zuwendungen gegeben, es seien auch Familienmitglieder der Politiker geimpft worden, man hätte auf Impfungen bestanden und keinesfalls auf "Restposten" gewartet.

Bundeskanzler Kurz ist, ob dieser "Entgleisungen", zornig, sauer, "not amused", das "Vordrängeln" sei "absolut inakzeptabel". Auf die Frage nach politischen Konsequenzen sagt Kurz (wörtlich): "Ich glaube, jeder weiß, wie er in so einer Situation eigentlich auch zu reagieren hätte". Fast wortident beschreibt das auch Finanzminister Blümel im Pressefoyer nach dem Ministerrat am 20.01.2021.

Kurz geht also, sollte ich das richtig interpretieren, von zahlreichen "Rücktritten" bzw. "Amtsniederlegungen" aus.

Nun aber zum, zumindest aus meiner Sicht, eigentlichen Problem dieser, vorerst nur auf Lokalpolitikerebene, stattgefunden habenden "Schwachsinnsaktionen": Wenn selbst (zumindest im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie) systemirrelevante Lokalpolitiker scheinbar dem Lockruf der Rücksichtslosigkeit erliegen, einem "perversen" inneren Drang, sich selbst, vor allen anderen und unter Missachtung der von Experten konzipierten nationalen Vorgaben, etwas verschaffen, was ihnen zweifelsfrei nicht zusteht, ist der Verlust des Amtes nur die erste (logische) Konsequenz.

Wie soll man einem "Normalbürger" glaubwürdig Verständnis, Geduld und Einsicht, letztlich die Preisgabe des gesamten sozialen Lebens, abverlangen, wenn gleichzeitig und vor den Augen der Öffentlichkeit, auf der politischen Bühne ein solches Trauerspiel, mit äußerst fragwürdigen Figuren besetzt, dargeboten wird?

Der Reputationsverlust der politischen Entscheidungsträger war in den letzten Wochen und Monaten dermaßen hoch, dass eine solch unverfrorenes, in allen Varianten verwerfliches, Verhalten mit dem Stigma des Lokalkolorits behafteter "local heroes" Vorschub dafür leistet, dass die wiederum verlängerten Restriktionen von der "Basis" zum Anlass genommen werden, eben dieselben nicht mehr länger zu akzeptieren, sich in noch erheblicherem Ausmaß dagegen aufzulehnen oder bald gänzlich den Gehorsam zu verweigern.

In weiterer Folge sollte man beginnen ernsthaft darüber nachzudenken, welche (verwaltungs-, zivil-) oder strafrechtlichen Konsequenzen (§ 302 StGB) das "absolut inakzeptable" Verhalten haben könnte.

Der sachlich zuständige Bundesminister, Rudolf Anschober, wäre aufgefordert, die Einhaltung der in Auftrag gegeben und als verbindlich erklärten Priorisierung endlich in die Form einer entsprechenden, gesetzes- und verfassungskonformen, Verordnung zu gießen und Verstöße dagegen mit massiven Verwaltungsstrafen zu sanktionieren.

Man kann, im Sinne (guter, alter) österreichsicher Tradition, relativ sicher davon ausgehen, dass sich die Anzahl der bis heute bekannt gewordenen "Impfstoffmissbrauchsfälle" noch deutlich erhöhen wird. Dem Vernehmen nach gibt es bereits einen "regen" Handel mit Impfdosen, die jedenfalls nicht diejenigen Menschen zugute kommen, denen sie tatsächlich zustünden.

Den wichtigtuerischen Vordrängler könnte man ja, rezeptfrei und kostenlos, mehrere Dosen Moral und ethisches Verständnis injizieren. Vielleicht gesundet dann der Hausverstand, kommt es zu einer Rückkehr der Achtung gegenüber den Mitmenschen, die längst einer widerwärtigen Verachtung gewichen ist.


Chr. Brugger

21.01.2021