Rekorde für die Ewigkeit

02.05.2022

Weltmeisterschaften sind normalerweise Anlass genug, medial dafür verwendet zu werden, Leistungen in Sphären anzusiedeln, die zumindest Ehrfurcht einflössen und unabhängig davon, ob es sich um "Weltsportarten" (Leichtathletik, Fußball, Schwimmen etc.) oder "Randsportarten" (Ski alpin usw.) handelt, meist weit über das nötige Ausmaß hinaus aufgebauscht zu werden.

Quelle: https://www.sport1.de/news/mehr-sport/2019/04/snooker-wm-ronnie-o-sullivan-gegen-amateur-raus-sensation-durch-james-cahill

Wenn es allerdings um Sportarten geht, bei denen nicht so sehr Körperkraft, Athletik oder die Fähigkeit, sich über das normale Maß hinaus zu überwinden im Vordergrund stehen, dann ist das Interesse der "Sportreporter", wenn überhaupt vorhanden, eher gering; zu diesen, zumindest medial unbeliebten bzw. kaum berücksichtigten, Sportarten zählt neben Schach auch Snooker, jene Form der Präzisionssportart Billard, bei der 22 Kugeln auf einer 6,35 quadratmetergroßen, kammgarntuchbespannten Spielfläche in einer vorgegeben Reihenfolge in einer der sechs vorhandenen "Taschen" versenkt werden müssen.

Quelle: https://www.sueddeutsche.de/sport/snooker-o-sullivan-vor-siebtem-snooker-wm-titel-fuehrung-gegen-trump-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220501-99-118211

Wenn alljährlich im Allerheiligsten des Snooker-Sports, dem "Crucible Theatre" in Sheffield, South Yorkshire, die weltbesten Snooker-Spieler ihre Queues kreuzen, geschieht dies überwiegend ohne erwähnenswerte Berichterstattung in "sportaffinen" Blättern oder auf Internetseiten; wenn überhaupt, handelt es sich um kaum auffindbare Randnotizen, in denen bestenfalls das Finalergebnis sowie Sieger & Verlierer Erwähnung finden.

Wie dem auch sei: Snooker ist eine Sportart, die es wert ist, angesehen und beschrieben zu werden; ähnlich wie beim Schach stehen beim Snooker intellektuelle Fähigkeiten (gepaart mit Ausdauer) im Vordergrund, kommt es darauf an, seine technischen Fähigkeiten situationsadäquat so einzusetzen, dass der Gegner am Tisch zum Zuseher degradiert und an einer Spielfortsetzung möglichst lange gehindert wird.

Quelle: https://sport.sky.de/artikel/snooker-osullivan-fuehrt-im-wm-finale-gegen-trump/12603625/35311

Wie beinahe in jeder Sportart gibt es ein breites "Mittelmaß" an Spielern und einige wenige, die über Jahrzehnte hinweg diese Sportart prägen und dominieren; ein Blick in die Liste der Weltmeister dieses Jahrhunderts verdeutlicht, dass es vor allem einen gibt, der alle & alles überragt, aus der kleinen Masse von Spielern, die das Prädikat "Weltklasse" tatsächlich verdienen, herausragt: Der mittlerweile 46-jährige Engländer Ronald Antonio "Ronnie" O'Sullivan, das charismatisch-exzentrische Snookergenie, das Enfant terrible der Szene, "der Revoluzzer vom anderen Planeten", wie in der Süddeutschen Zeitung am 11.12.2018 zu lesen war, der "begnadetste Spieler seiner Sportart", wie die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 16.04.2021 geschrieben hat.

Geht es nach den Buchmachern diverser Wettanbieter besteht kein Zweifel daran, wer am heutigen Tag die Weltmeisterschafts-Trophäe samt Siegerscheck (500.000 £) erhalten wird; der Weltranglistenerste dominiert den Snooker-Sport seit mehr als einem Vierteljahrhundert, ist das Nonplusultra der globalen Snooker-Community, das Maß aller Dinge, wenn es um Spielraffinesse oder spektakuläre "Bälle" geht, und Inhaber von "Rekorden für die Ewigkeit"; O'Sullivan hat die mit Abstand meisten "Centuries" gespielt, die meisten "Maximums" (beides nicht nur bei der WM), das bei weitem schnellste 147-er Break der Geschichte (bei der WM 1997), die meisten "Triple Crown" Siege (WM, Masters, UK Championship) usw. und so fort.

Quelle: https://www.sueddeutsche.de/sport/o-sullivan-snooker-uk-championship-1.4247288

Im Finale der diesjährigen Weltmeisterschaft führt "The Rocket" gegen seinen 32-jährigen Herausforderer Judd Trump im "Best of 35" mit 12:5; der "Magier" benötigt also noch 6 Frames, um zum siebenten Mal als Weltmeister gefeiert werden zu können; angesichts der gestrigen Leistungen besteht kein Zweifel daran, dass "The Essex Exocet" spätestens in der vierten Session triumphieren wird. Alles andere wäre eine Überraschung, mit der kaum noch jemand rechnet; sein größter Gegner wird heute nicht der Weltmeister von 2019 sein, "The Ace in the Pack" Trump, sondern schlimmstenfalls ein bipolarer Affekt in Form einer selbst überhöhten Abweichung. Allem Anschein nach ist mit einem solchen Höhenflug allerdings nicht zu rechnen; viel zu konzentriert erscheint das magische Spiel des Künstlers, allzu kontrolliert wie reflektiert die Herangehensweise, ungewohnt reduziert seine ansonsten aggressiv-furiose Spieldynamik.

Quelle: https://www.zeit.de/sport/2011-02/ronnie-o-sullivan-snooker-depression/komplettansicht

Spätestens zu Beginn des heutigen, achtzehnten "Zähleinheit" wird der Snookerwelt bzw. zumindest denen klar werden, die mit dem "Lebenselixier", dem psychischen Antrieb O'Sullivans umzugehen verstehen, wer das Endspiel gewinnen wird: "Das depressive Genie mit den schwarzen Augen" (ZEIT ONLINE, 04.02.2011).

02/05/2022

Chr. Brugger