Putzlicht …

20.09.2022

Lieber T,

vermutlich bedürfte es nicht einmal eines recht einfach-reduzierten "Akronyms" zu Beginn damit du wüsstest, dass die folgenden Zeilen dir ganz allein und persönlich gewidmet sind; nun, da es zuvor schon titelmäßig noch deutlicher wurde, kannst du das, wie wir es "entre nous", bezeichnen würden, "Putzlicht" entspannt genießen.

Quelle: https://www.jpc.de/jpcng/poprock/detail/-/art/niels-frevert-putzlicht/hnum/9277333

Dem einen oder der anderen LeserIn wird "Putzlicht" zwar ein Begriff sein; mit unserem "Putzlicht" hat das allerdings sehr wenig gemein, nur insofern etwas zu tun, als ich mir aus dem bekannten (um nicht zu sagen öffentlichen) "Putzlicht" des Niels Frevert gedankliche Anleihen entnommen habe, die es mir im besten Fall ermöglichen, dein Gemüt zu erfreuen.

Um das Präludium zu beenden, gleichsam zum Herzstück zu kommen, bemühe ich insofern ein paar Freverts-Zeilen aus "Wind in deinem Haar" ("Hast du `ne Idee für mich, worüber ich schreiben kann?") um darauf eben nicht (wie du das von mir auch nicht erwarten würdest) mit der Botschaft einer verkürzten Sequenz aus dem Lied "Ich suchte nach Worten" (...) für etwas, das nicht an der Straße der Worte lag" antworten zu müssen, sondern mich einem Thema zu widmen, dessen Alltäglichkeit, so trivial sie sein mag, dazu führt, dass sich niemand (außer mir) ernsthaft damit auseinandersetzen scheint.

Die Weigerung der Mehrheit, sich mit der "Wirklichkeit" zu beschäftigen, ist durchaus verständlich, setzte dieser Nachdenkprozess doch in erster Linie bzw. letzter Konsequenz voraus, die eigene Wirklichkeit (und damit sich selbst) in Frage stellen zu müssen - das ist der Allgemeinheit Wille nicht.

Vor einer Szenerie anhaltender "Krisen" beginnen die Protagonisten auf der Bühne intellektueller Anmaßungen, verschrobener Eitelkeiten und einem Sammelsurium aus Selbstdarstellung, -überhöhung und -gefälligkeit den Begriff der "Wirklichkeit" mit jenem der "Wahrheit" zu assimilieren, der Einfachheit oder Dummheit halber zwei unterschiedlicher Worte auf einen Begriff zu reduzieren, um damit der intellektuellen Konfrontation zu entkommen, die geboten wäre.

An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass die überwiegende Mehrheit ebenso den Begriff der "Wirklichkeit" mit jenem der "Realität" gleichsetzt, obwohl an deren Kongruenz erhebliche Zweifel bestehen.

Wirklichkeit, Realität und Wahrheit sind demnach ein und dasselbe oder werden zumindest für dasselbe gehalten, nennen wir es daher der begrifflichen Einfachheit halber "Wahrheit".

Wie dem auch sei oder sein mag - für philosophische Betrachtungen ist momentan eben ohnedies nicht die "Zeit" und so beschäftigt man sich allenthalben und bei jeder Gelegenheit seit Wochen, vor allem aber im parteipolitischen "Kinderspielgarten", damit, die Frage "Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar?" nicht zu beantworten.

Quelle: https://www.thalia.at/shop/home/artikeldetails/A1017768529

Diese Frage wäre, so man wollte, einfach zu beantworten; dazu bedarf es keiner philosophischen Anstrengungen, genügte die Kenntnis der Kernbotschaft einer Rede der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann im Bundeshaus zu Bonn an den Iden des März 1959: "Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die andren, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar."

Leider ist von einem "Augen aufgehen" wenig zu sehen, herrschen verblendete Ignoranz, ein despektierlicher Umgang mit der "Wahrheit" vor - die Wahrheit nicht zuzumuten bedeutet zumindest vermeintlich, für deren Ursachen nicht verantwortlich sein zu wollen, lägen die Wurzeln des "Übels" doch in der Vergangenheit, im schwierig nachzuvollziehenden Einflussbereich parteipolitischer Vorgängergenerationen und damit im gut Verborgenen; die aktuell Handlungsunfähigen mühen sich solcherart nur mit den Aufräumarbeiten derjenigen Kollateralschäden ab, die ihre Vorläufer im Amt "veranstaltet" haben, löffeln also bloß diejenige Suppe aus, die ihnen bereits eingebrockt kredenzt wurde.

Allein: Uns, die Bevölkerung, interessiert(e) einzig die "Wahrheit", wohingegen deren Ursachen keine Bedeutung zukommt; wenn wir bereits mit deren unliebsamen Folgen überfordert sind, interessieren Herkunft, Ursachen oder gar Verantwortlichkeiten naturgemäß nicht länger.

Dass uns also die Wahrheit zumutbar ist, reiner Wein eingeschenkt werden könnte, erhellt schon daraus, dass wir mit ihr ohnedies schon mehr beschäftigt sind, als uns lieb ist, sie sich offen vor unser aller Augen ausbreitet und abspielt: Sei es in Form von eklatant hohen Strom- oder Gasrechnungen, Phantasiepreisen an den Zapfsäulen des Landes sowie in Supermärkten und sonstigen Warenhäusern, laufenden Geldentwertungen, das alles am Ende kumuliert in der Erkenntnis, dass die restlich verbleibenden Tage eines jeden Monats mit der gähnenden Leere unserer Geldbörsen nicht länger kompatibel sind.

Problematisch wird das "Ganze" allerdings dann, wenn sich jemand die Frage erlaubte, "welche Wahrheit" uns denn (nicht) zumutbar, von "welcher Wahrheit" überhaupt die Rede sei.

So lächerlich einfach diese Frage klingt, so schwierig ist eine Antwort darauf; das erinnert mich reflexartig an eine andere Frage, deren Beantwortung selbst für "kluge Köpfe" zu schwierig zu sein scheint: "Quid est enim tempus" fragt sich Augustinus im elften Buch des XIV. Kapitels seiner "Confessiones" irgendwann; "was also ist Zeit"?

Seine Antwort darauf kann auch heute noch aufrechte Gültigkeit für sich beanspruchen: "Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht."

Das eigentliche Problem hinter dieser (einfachen) Frage bzw. deren (unbefriedigender) Antwort darauf veranschaulicht der Kirchenfürst ebendort: "Mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, dass ich weiß, dass, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, dass sie sind, wem die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit überginge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wem also die Gegenwart nur darum zu Zeit wird, weil sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir da sagen, dass sie ist und wenn sie deshalb ist, weil sie sofort nicht mehr ist; so dass wir insofern in Wahrheit nur sagen könnten, dass sie eine Zeit ist, weil sie dem Nichtsein zustrebt?"

Augustinus schreibt, das kommt erschwerend hinzu, gar über drei Zeiten: "Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als solche existieren nach Augustinus nicht: "Wie kann man sagen, dass [die vergangenen und zukünftigen Zeiten] sind, da doch die vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist? Die gegenwärtige aber, wenn sie immer gegenwärtig wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit."

Vielmehr ist die Vergangenheit eine Erinnerung in der Gegenwart, und die Zukunft eine Erwartung in der Gegenwart, während die Gegenwart selbst, ein aus der Zukunft in die Vergangenheit an unserem Geiste vorüberziehender Moment ist. Wir messen die Zeit anhand eines "Eindruck[s], den die vorübergehenden Dinge [in unserem Geiste] hervorbringen und der bleibt, wenn sie vorübergegangen sind, ihn, den gegenwärtigen, [messen wir], nicht was vorübergegangen ist und ihn hervorgebracht hat."

Wenn du jetzt, lieber T., irritiert sein, gar zweifeln und dich fragen solltest, was denn die Zeitzitate des heiligen "Kirchenphilosophen" mit unserer (bitteren) Wahrheit zu tun hätten, mag dir allenfalls ein Namensvetter bzw. dessen "Erkenntnistheorie" Trost spenden; während Augustinus auf der Suche nach seiner "Erkenntnis" bei Platons Ideenlehre Anleihe nimmt, unsere "Wahrheit", veranschaulicht durch das Höhlengleichnis, ein unvollständiges Abbild der eigentlichen "Realität" sei, die Menschheit sozusagen bloß ein "Schattendasein" führte, traut uns die thomistische "Erkenntnistheorie" erheblich mehr "Realitätssinn" zu, bedient sie sich doch eines dualen, eines "tätigen" und eines "möglichen", Verstandesbegriffes im Dunstkreis der "Vollkommenheit": Demnach wäre die platonisch-augustinische "Realität" nicht länger nur ein Abbild der eigentlichen "Realität"; der tätige Verstand ("intellectus agens") versetzte uns in die Lage, aus unseren Erfahrungen und dem Erkanntem universale Ideen und allgemein gültige Erkenntnisse abzuleiten, wodurch uns die "Wesenheit der Dinge" ("Quidditas") - das, was es ist - erkennbar zugänglich wäre.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Höhlengleichnis#/media/Datei:An_Illustration_of_The_Allegory_of_the_Cave,_from_Plato's_Republic.jpg

Jedem philosophisch geschulten Kritiker meiner bieder-reduziert-illustrierten "Wahrheitsskizze" müsste man vermutlich, ohne weiteres Aufbegehren zustimmen; ich meinerseits könnte darauf aber wiederum ebenso gut bzw. lapidar mit einem Satz der "Toten Hosen" antworten: "An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit"; oder einfach darauf hoffen, dass sich Augustinus irrt, wenn er meint, die Gegenwart, würde sie nicht zur Vergangenheit, sei Ewigkeit.

An Tagen wie diesen, zu einer Zeit "wie sie eben ist", bleibt kaum Raum und noch weniger Zeit für Theoreme übrig, müssen wir uns "Putzlicht" der "Wahrheit", der "Wesenheit der Dinge" stellen - unabhängig davon, wieviel Licht das philosophische Gedankenspiel unserem "Dasein im Schatten der Gegenwart" auch spenden würde.

Denn in "Wirklichkeit" und in "Wahrheit" ist es in der "Realität" vollkommen egal, welche Ansichten Platon, Augustinus oder Thomas von Aquin zu den Themen "Wahrheit", "Wirklichkeit" und "Realität" vertreten; "an Tagen wie diesen" wird das Offensichtliche noch offensichtlicher - nüchtern betrachtet wird daher die Frage ("Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar?") absolut zur falschen Zeit, also zur Unzeit gestellt; denn wenn wir - im Sinne Bachmanns - "in den Stand kommen wollen, wo uns die Augen aufgehen", sollten wir schön langsam damit beginnen, das Heft des Handelns nicht weiter jenen zu überlassen, die jahrzehntelang bewiesen haben, dass das "Handeln" ihre Sache nicht ist.

Wenn jetzt von uns ("an Tagen wie diesen") "höchste Güter" wie "Solidarität", "Rücksicht auf andere" & "Gemeinschaftssinn" eingefordert werden, verlangen die "Handlanger" uns etwas ab, was wir gar nicht (mehr) kennen können; wir sind gleichsam (nicht nur sozial und ökologisch, sondern auch menschlich und ethisch) kollektiv an einer grell-gleißend marktwirtschaftlichen Glühbirne der Marke "Perpetuum Mobile" erblindet und gleichzeitig auch noch am Klang mythologischer Zwittersirenen ertaubt, die uns seit Jahr & Tag mit schrillen Zukunftsmelodien in absurd hohen Tonlagen zuerst das Gehör und letztlich den Verstand geraubt haben.

Selbst der Dümmste aus der Kategorie "Politiker" müsste "an Tagen wie diesen" erkennen, dass etwas zu fordern, was nicht vorhanden ist, einem aussichtslosen Unterfangen gleicht. Es ist wahrlich das einzig "Positive" daran, guten Gewissens davon ausgehen zu können, dass von von der Leyen abwärts, bis in die dekadenten Niederungen heimischer "Politeliten", das Utopische an den eigenen Anliegen erkannt wurde; sonst würde man nicht neuerdings versuchen, uns mit Märchen vom "Endsieg der Ukraine", dem "Untergang Putins" oder sonstigen Flausen ruhigere Nächte samt süßen Träumen zu bescheren. Aus dem europäischen Notfallhoffnungsflakon werden Töne versprüht, die uns auch noch den morgendlichen Unmut, die tägliche Tristesse sowie den versauten Vorabend vergessen lassen sollen.

Das entbehrt zwar nicht einem hohen Maß an Despektierlichkeit, dafür aber jeder "Realität".

Ähnlich fern- oder fremdgesteuert dürfte der "Kriegsheld von Kiew" sein, wenn er Waffen verlangt, die ihm der Westen nicht liefern kann; zum einen hat man die Arsenale längst leergeschenkt, andererseits keine Nachproduktionskapazitäten mehr; "woher nehmen, wenn nicht stehlen" lautet die Frage der Stunde. Während sich die Gattin des Komikers in Brüssel und London prostituiert, nimmt das Schicksal in der Ukraine seinen Lauf.

Quelle: https://www.dw.com/de/von-der-leyen-durchhalten-und-russland-besiegen/a-63114126

Ich stelle mir die Frage, was die Vogue-Cover affine "Hochglanzdame" im europäischen Parlament verloren hat, beim unzählige Pfundmillionen teuren Begräbnis der "Queen", dessen größte "politische" Leistung es war, mehr als 70 Jahre auf einem Thron gesessen zu sein?

Vielleicht sollte man sich bei der heute beginnenden UNO-Generalversammlung am East River darauf verständigen, dem Kiewer Komiker ein Ultimatum für den Abschluss eines Friedensvertrages zu stellen und nicht länger seinen absurd-eitlen Absichten zu huldigen; so wie der East River kein Fluss ist, ist Selenskij kein Staatsmann sondern Komiker von Beruf.

Leider hat es aber den Anschein, als sei der "Westen" bereit, seine Werte, weltweit die einzig wahren immerhin, bis zum letzten Schuss gegen ein System zu verteidigen, dessen Epizentrum sich am roten Platz im russischen Moskau befinden soll. Der gewiefte "Euroamerikaner" übersieht dabei nur, dass seine wertinspirierte Heilsbotschaft den weitaus größeren Teil der Erde weder interessiert noch kümmert; wenn die russische Föderation zu jener Spezies zählt, die man "wertlos" im Sinne von "von unseren (westlichen) Werten befreit", nennt, wie gedenken diejenigen dann, China, Saudi Arabien, Katar, Libyen, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Venezuela, den Iran, den Tschad, Indonesien, Kamerun, die Türkei, Afghanistan, Serbien, Pakistan, Brasilien, Hongkong, Marokko, Nigeria, Bolivien, Kenia, Polen, Kuwait, Indien, Bulgarien etc. zu bezeichnen?

Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/todesschutze-von-osama-bin-laden-geht-an-die-offentlichkeit-6910957.html

Nähme man es noch etwas ernster, wären selbst die größten "Friedensbotschafter" von unserem "Rechtekanon" auszuschließen: Israel & die USA, die beiden Länder mit der weltweit höchsten Kriegs- und Angriffs- bzw. Antifriedensexpertise. Hinter den kriegerisch-frivolen Absichten dieser "Wertesozietäten" bleiben selbst "Schurkenstaaten" wie Syrien, Nordkorea oder der Sudan weit zurück, verkommt ein Osama samt seinem Laden im Vergleich mit einem kriegstollen Affen aus Honolulu zum Taschendieb.

Und nun treffen all diese Werte- und Antiwertekommunen an einer Meerenge zwischen Long Island Sound und Hudson River zusammen, um die "nüchternen" Fakten im russisch-ukrainischen Konflikt zu befunden, daraus Schlüsse zu ziehen bzw. Wunschvorstellungen zu formulieren. Was dabei herauskommt, kann man sich bereits vor dem Beginn der Vollversammlung vorstellen: Nichts!

Jetzt wirst du dich vielleicht fragen warum ich von der "Wahrheitsfrage" abgekommen und bis nach New York ausgewichen bin; dieser Umweg durch den kleinpolitischen Kindergarten erleichtert mir wenigstens die Einsicht, dass die von Europa propagierten, den USA missbrauchten, vom Großteil der restlichen Welt missbilligten Werte, auf die man uns einschwört, in "Wirklichkeit" gar keine Werte sein können.

"Solidarität" (im weitest positiven Sinn gedacht) wäre beispielsweise durchaus ein hoher Wert; leider ist dessen Höhe für uns nicht erstrebenswert, wird doch die wertvolle "Solidarität" ausschließlich für niedrige Beweggründe missbraucht und dadurch zeitgleich entehrt und wertlos. Nur weil man uns die "Wesenheit der Dinge" ("Quidditas"), das, was es ist, nicht sagen will oder erklären kann, wird Solidarität eingefordert, damit die Verantwortung den Adressaten der "Solidaritätseinforderungsbotschaft" übertragen. Entsprechen wir dem nicht, sind wir für das, was kommen wird, selbst verantwortlich, hätten wir doch auch die Möglichkeit gehabt, die multiplen Krisen im Kollektiv und solidarisch ertragend zu lösen.

Trösten kann man sich, zumindest ein verschwindend kleiner Teil von uns, mit einem Halbsatz aus "Vom glücklichen Leben": "Glücklich ist der, dessen Vernunft ihm alle Lebensumstände erträglich macht"; das Problem daran ist nur, dass "die Masse der Vernunft als Verteidiger ihres eigenen Verderbens feindlichen gegenübersteht", ist doch "ein großer Menschenhaufen Beweis für das Schlechteste".

Wem Seneca also, weil es an der nötigen Vernunft mangelt, keine Hilfe sein kann, der könnte es, ginge es einzig um den "Wahrheitsbegriff", mit dem radikalen Konstruktivismus eines Ernst von Glasersfeld versuchen, der auf der Annahme basiert, die Wahrheit sei der Erkenntnis eines objektiven Wissens nicht zugänglich, sondern rein subjektiv bestimmbar; jeder erfinde auf der Grundlage höchstpersönlichen Erfahrungen seine eigene "Wirklichkeit" selbst, Wahrnehmung und Erkenntnis seien demnach bloß konstruktive, gedankenarchitektonische Tätigkeiten oder gelegenheitsursächliche Zufallsprodukte.

Wem diese Annahme hilft, hat viel gewonnen, kann wiederum auch von Seneca Hilfe erwarten: "Alles, was man, weil die Welt nun einmal so eingerichtet ist, zu erdulden hat, sollte man wie ein Held auf sich nehmen: Wir sind ja dazu verpflichtet, das Los der Sterblichen zu ertragen und uns nicht durch etwas verstören zu lassen, was zu vermeiden nicht in unserer Macht steht"; heldenhaft zu ertragen wäre daher eine weitere Krisenbewältigungsvariante.

Da aber nicht alle Helden sind oder sein wollen, kaum jemand in der Lage ist, dem "Los der Sterblichen" zu entfliehen und nur einige wenige mächtig genug sind, ereilt den Rest wohl umso mehr das Schicksal der zuvor beschriebenen "Masse", als sich in jeder Demokratie dieselben Leute, die eine Regierung gewählt haben, darüber wundern, dass jemand Regierungsmitglied geworden ist; das ist, so Seneca, "das Resultat jeder Entscheidung, bei der nach der Mehrheit entschieden wird".

Wenn also auch die Demokratie und damit ihre "Werte" wertlos sind, was bleibt der Masse übrig, solange "jeder lieber glauben als nachdenken will"?

Seneca selbst hätte die Antwort: "Immer glaubt man bloß den anderen und ein von Geschlecht zu Geschlecht weitergegebener Irrtum lenkt uns und stürzt uns ins Verderben. Wir gehen durch das Beispiel anderer zugrunde; wir werden gerettet, sobald wir uns von der Masse absondern".

So komme ich am Ende, "Putzlicht" und Seneca-infiltriert, zur Einsicht, dass sich entweder jeder von der Masse absondern, der Demokratie abschwören und seinen "subjektiv selbstkonstruierten" Weg einschlagen muss: "Wir sollen also nicht wie das Herdenvieh der Schar derer folgen, die vor uns gehen und nicht die Richtung einschlagen, in die man gehen müsste, sondern die, in die man geht".

Quelle: https://www.kleinezeitung.at/kultur/buecher/6012287/100-Geburtstag_Paul-Watzlawick_Humanist-Visionaer-und-Denker-mit

Oder wir eifern einem der Klügsten nach, den Österreich in den letzten Jahrhunderten aufzubieten hatte, lesen seine Werke, im speziellen Fall seine "Anleitung zum Unglücklichsein"; dann sollten selbst die, mit denen es die Vernunft nicht allzu gut gemeint hat, als es um deren Verteilung ging, erkennen können, dass sie, um glücklich zu sein, nur das Gegenteil dessen tun müssen, was die Regierenden von ihnen gesetz- oder verordnungsmäßig verlangen. Sollte ich nämlich nicht alles gänzlich missverstanden haben, sind parteipolitische Vorgaben bzw. Gebote der Regierenden nur als "Symptome" zu sehen, die, um selbst nicht unglücklich zu sein, nur noch in ihr Gegenteil umgedeutet werden müssen; die Bürger müssen faktisch bloß in jedem Anlassfall eine paradoxe Intervention in der zuvor beschriebenen Form vornehmen und haben nichts Weiteres mehr zu befürchten. Dieser psychologische Kunstgriff ist auch insofern unproblematisch, als die Regierenden selbst nicht daran glauben würden oder zu denken wagten, dass jemanden in den Sinn käme, ihnen bzw. ihren Vorgaben, Gesetzen und Verordnungen Folge zu leisten.

So nimmt auch dieser Aus- oder Höhenflug ein gutes Ende: Dem, was immer die Regierenden in Gesetzes- oder Verordnungsform gießen, uns abverlangen oder gebieten, entkommen wir mit spielerischer Leichtigkeit; dann ist uns auch die "Wahrheit" problemlos zumutbar, jeder von uns kann tun und lassen, wie es ihm beliebt, gehen wohin er will - solange er oder sie sich nicht in und mit der Masse bewegt und Wahlen meidet. Denn erst dann wird es eines Tages auch keiner Umdeutungen mehr bedürfen, auch bloß eingeschränkte Vernunft genügen, an der "Wahrheit" nicht zu verzweifeln oder gar an sich selbst zu scheitern.

Bis es allerdings soweit ist und alle sich auf das jeweils subjektiv-persönliche Szenario eingestellt haben, können wir uns kollektiv im platonischen Schatten aller Realitäten wähnen bzw. aufhalten und so tun, als kennten wir die Wirklichkeit nicht; die Wirklichkeit ist in Wirklichkeit nämlich nicht wirklich wirklich, oder, wie ein kluger Kohlkopf meinte: "Die Wirklichkeit ist leider anders als die Realität".

"Putzlicht" - so schaut´s aus!


Christian

20/09/2022