Peter Handke - Der streitbare Dichterfürst

11.05.2021

Was hat man in den letzten Jahren, Jahrzehnten, nicht alles über das Verhältnis von Peter Handke zum Staat Serbien lesen dürfen, müssen, können. Er habe sich mit Serbien nicht nur solidarisiert, nein, symbiosiert - und das zu einer Zeit, als das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 noch kein halbes Jahr alt war. Er, Handke, leugne einen "Völkermord", versuche, einen "Genozid", zumindest, schönzureden oder schönzuschreiben.

Handke hat sich mehrfach, auf seine Weise, dazu erklärt; nicht nur einmal, im letzten Vierteljahrhundert zig-Mal; allein, es hat für die Sicht, die Ansicht, die Meinung über und auf Handke kaum etwas verändert, unabhängig von Handkes vorgenommenen Selbstkorrekturen. Immer wieder wird die "proserbische" Haltung Handkes thematisiert, problematisiert, aufgewärmt, vermeintlich neu beschrieben.

In den letzten Tagen kam es wieder zu einer solchen "Auferstehung" des mehr oder minder legendenhaften Mutualismus Handke - Serbien. "Der Literaturnobelpreisträger Peter Handke lässt sich von Serben ehren - und wird in Bosnien als Faschist bezeichnet" schreibt die "Neue Zürcher Zeitung"; und weiter: "Der österreichische Schriftsteller Peter Handke hat am Wochenende Serbien und die bosnische Serbenrepublik besucht. Er erhielt mehrere staatliche Orden, zum Missfallen Sarajevos. Die Meinungen in Bosnien und Herzegowina sind deutlich: Handke gilt dort als «Genozid-Leugner »".

"Handke mag ein Nobelpreisträger zum Quadrat sein, aber in den Tiefen seiner Seele ist er ein Faschist", sagte Zeljko Komsic, das kroatische Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums, dem Nachrichtensender N1.", ist in der Süddeutschen Zeitung zu lesen.

Der Höhepunkt des Anti-Handke-Ethos ist dabei aber längst überschritten; eine letzte, quasi eruptive, Kulmination hatte die pathetische Befleckung Handkes im Jahr 2019 erreicht, als dem "streitbaren" Dichterfürsten der Literaturnobelpreis verliehen wurde.

Man ist zu diesem Anlass, wieder einmal, über Handke hergefallen; es war gleichsam eine Heimsuchung, eine feuilletonistische Diffamierung, eine reflexive Verketzerung. Ohne großes Wenn, dafür jedenfalls ohne relativierendes Aber. Der Bogen seiner "Skandale" wurde, einmal mehr, gespannt, der Pfeil seines despektierlichen Treibens gegen ihn selbst gerichtet, der Stab noch einmal gebrochen; man klagte an, versachverhaltete, sprach, schon wieder, dasselbe Urteil: Handke ist schuldig. Schuldig wofür? Leugnung des Genozids von Srebrenica, Parteinahme für Slobodan Milošević, die Affinität zum Kriegsverbrecher Karadžić.

Stefan Kisser umschreibt diese Szenerie in seinem Artikel "Wiederkehr des Immergleichen" (Stuttgarter Nachrichten, 19.10.2019) zutreffend: "Täglich türmen sich in einer Art Vulkanismus der öffentlichen Meinung neue feurige Vorwürfe auf das vorübergehend erkaltet scheinende Debattengebirge, das in einer gewaltigen Eruption nach Handkes Parteinahme für Serbien im jugoslawischen Bürgerkrieg in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgeworfen wurde.

So war wurde man in die Lage versetzt, über die Beziehung Handkes zum ehemaligen Jugoslawien in den letzten 25 Jahren, reichlich lesen zu können. Einen Befund besonderer Art lieferte dabei Paul Lendvai in seinem Essay "Handke, Milošević und der Skandal" (in Paul Lendvai, "Die verspiegelte Welt. Begegnungen und Erinnerungen"). "Je tiefer ich mich in die Recherchen zu den möglichen Beweggründen Handkes proserbisches Engagement vergrub und je mehr seiner diesbezüglichen Schriften, Erklärungen und Interviews ich las, umso stärker wurde meine Überzeugung, dass Handkes anfängliche, aber tief verwurzelte, Nostalgie nach Jugoslawien, gepaart mit der offenen, wenn auch häufig wortreich bestrittenen Verteidigung der Serben im Allgemeinen und von Milošević im Besonderen, nicht wirklich aufgearbeitet wurden (...) Die Kontroversen um Handkes Haltung fügen sich in diesen Rahmen ein. Sie wirken, nicht zuletzt infolge seines Rufes im deutschsprachigen Feuilleton aber auch wegen der Unvernunft der ihn verstehenden, gar verteidigenden Literaturkritiker in Fragen der südslawischen Geschichte, unabhängig von ihren ehrenwerten Absichten, doch eher als Bazillen denn als Impfstoffe bei der Krankheit des ethnischen Nationalismus. (...) ... kann ich meine Position als die eines unparteilichen, aber nicht indifferenten Beobachters vertreten. Dazu kommt natürlich meine intellektuelle und berufsbedingte Neugier, gepaart mit der journalistischen Ambition, den Lesern etwas Neues, Wichtiges, bisher nicht Gesagtes zu bieten".

Im "Standard" vom 15.10.2019 kann man dann die Zusammenfassung der lendvaischen Diagnose nachlesen: "Deshalb ist die Zuerkennung des Literaturnobelpreises an Peter Handke, trotz seiner unbestrittenen großen Begabung, ein moralischer und politischer Skandal".

In einem Gastbeitrag in der "Süddeutschen Zeitung" lässt Lendvai Filip David zu Wort kommen: "Handke ist eine moralische Null. Es ist schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, Handkes Gesamtwerk von seinen politischen Aktivitäten zu trennen. Der Nobelpreis wird die Missverständnisse in unserer Region noch einmal vertiefen und die Wunden der 1990er wieder aufreißen." 

Mit Sicherheit und Recht kann man niemandem absprechen, sich mit dem von Handke zu Jugoslawien Geschriebenen und Gesagten auseinanderzusetzen, seine Haltung zu kritisieren, allenfalls gar gut zu heißen. Diese Freiheit ist jedem unbenommen; auch die Art und Weise inhaltlicher Konfrontation, dem Modus der Auseinandersetzung an sich, die Terminologie oder, wie im Fall von Paul Lendvai, die vorab bekundete Legitimation bzw. die präventive Selbstautorisierung (wiewohl dies eher verdächtig anmutet).

Umso mehr muss diese Freiheit auch dem Schriftsteller Peter Handke zugebilligt werden; wie und in welcher (sprachlichen) Form er seine "Gerechtigkeit für Serbien" einfordert, obliegt, mit allen damit einhergehenden Konsequenzen, allein seiner ureigenen Entscheidung. Man mag diese Haltung, so wie Lendvai, als "unaufgearbeitet" betrachten, die Verleihung des Literaturnobelpreises an Handke als skandalös bewerten - niemand wird sich daran stoßen, niemanden wird das besonders interessieren, ist es sich doch, literarisch betrachtet und unbeschadet der Expertise Lendvais in osteuropäischen Belangen, ein Nichts. Es handelt sich (lediglich) um eine private Ansicht, eine persönliche Befundung. Dasselbe gilt aber, vice versa, für das Werk von Handke. Er hat sich damit allenfalls, zumindest zeitweilig, ins Abseits "geschossen", unbeliebt und angreifbar gemacht, Spekulationen rund um seine Person Tür und Tor geöffnet. Die Entscheidung Handkes ist, unabhängig von allfälligen Vorbehalten, dennoch zu respektieren, mag seine politische Haltung auch fragwürdig sein, skandalös, menschenverachtend oder gegen die internationale Generallinie gerichtet. Handke mag moralisch oder ästhetisch gescheitert sein; das ändert aber nicht einen Deut an seiner schriftstellerischen Vormachtstellung, seinem Weltrang in literarischen Belangen. Vielleicht ist aber sein Œuvre ein Nichts - auszuschließen ist das nicht.

Der von Lendvai namhaft gemachte "Kronzeuge" seiner Anklage gegen Handke, Dževad Karahasan, schrieb bereits 1996 in der "Zeit" "Handkes Text ist eine ganz private Schwätzerei, in der es nichts gibt, außer dem sprechenden Subjekt." Als 2019, anlässlich der Nobelpreisverleihung an Handke, die Debatte neu aufflammte schwieg Karahsan und begründete das so: "Ich habe mich nicht gemeldet, weil ich vermutet habe, dass sich die aktuelle Diskussion viel mehr mit der Politik beschäftigen wird als mit der Literatur. Meine Probleme mit Handke sind rein literarischer Natur."

So mag man Handke, wie bereits beschrieben, stehen, wie man will; er ist aber in jedem Fall einer, der aufregt, empört, polarisiert; im Grunde muss man ihm für sein Werk dankbar sein, stellt er doch unter Beweis, dass es noch Empörer, Aufreger, solche gibt, die den Blutdruck ansteigen lassen, die Mitdenkenden auseinanderziehen, auffächern, meinungsvielfältig diskutieren lässt, antipodisch philosophieren; im Gefolge Handkes kommt es jedenfalls nicht zu einem einheitsbreiähnlichen Diskurs über unwegsame Entwicklungsströme hinweg, der lediglich das Verdikt von Gut und Böse anhimmelnd versatzstückartig-unspektakulär dahinlaviert.

Ein (weiteres) Beispiel dafür liefert Handke mit seiner Rede anlässlich des Begräbnisses von Slobodan Milošević:

"Ich hätte gewünscht, hier als Schriftsteller in Požarevac nicht al­lein zu sein, sondern an der Seite eines anderen Schriftstellers, etwa Harold Pinter. Er hätte kräftige Worte gebraucht. Ich brau­che schwache Worte. Aber das Schwache soll heute, hier recht sein. Es ist ein Tag nicht nur für starke, sondern auch für schwache Worte. Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Slobodan Milošević. Die sogenannte Welt weiß die Wahrheit. Deswegen ist die sogenannte Welt heute abwe­send, und nicht bloß heute, und nicht bloß hier. Die sogenann­te Welt ist nicht die Welt. Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue. Ich höre. Ich fühle. Ich er­innere mich. Ich frage. Deswegen bin ich heute anwesend, nah an Jugoslawien, nah an Serbien, nah an Slobodan Milošević."


Chr. Brugger

11.05.2021