Österreich 2030 – oder: Der Klassenkampf ist eröffnet!
Üblicherweise fällt es mir leicht, die richtigen Worte zu finden; angesichts der Rede Karl Nehammers im 35. Stock eines Gebäudekomplexes in Wien-Favoriten gestaltet sich das Ganze etwas schwieriger; was das Obermännchen der Volkspartei am 10.03.2023 sprachlich wie inhaltlich zu bieten hatte, lässt mich, was selten vorkommt, desillusioniert zurück.
Chefredakteur Claus Pándi beschreibt das, vornehm zurückhaltend, so:
"Abseits aller Scherze: So eine Kanzlerrede zur Lage der Nation wird doch wochenlang vorbereitet. Man konsultiert Fachleute und gute Schreiber, man denkt nach über Grundsatzfragen, man redet mit klugen Köpfen, man liest alte und neue Literatur. Wie kann dann so ein Text passieren?"
Quelle: https://twitter.com/dommmiiii/status/1634166513778212865/photo/1
Es wäre müßig, Twitter- oder sonstige Kommentare aufzulisten, die den ehemaligen Soldaten & Sekretär mit Spott & Häme überhäufen; mE lohnt es sich aber dennoch, der Frage nachzugehen, was (oder besser wer) Nehammer dazu bewogen hat, in einer rund achtzigminütigen Sprachübung unter Beweis zu stellen, was er nachweislich nicht kann: Österreichs Zukunft zu planen (Armin Wolf dazu: "Eines kann man zur Zukunft schon sagen: Sie beginnt nicht pünktlich. #Nehammer-Rede".
Manche aus der Twitter-Community befürchten, Nehammer habe sein selbst verordnetes Hausrezept ("Alkohol & Psychopharmaka") gar gröblich missbraucht, andere wiederum schreiben das Dahergeredete seinem fehlenden Verstand, seiner Abgehobenheit oder Abhängigkeit von BeraterInnen zu.
Vielleicht ist der Fauxpas vom Wienerberg aber auch ganz einfach zu erklären: Je weiter sich jemand, geodätisch betrachtet, von einem Referenzpunkt entfernt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, die Folgen einer Hypoxie in Kauf nehmen zu müssen.
Da (im Unterschied zu Nehammer) nicht jeder meiner Leser auf das gediegene Basiswissen eines "Master of Science" zurückgreifen kann, darf dieser Satz den dafür zu Dummen mit einfachen Worten gleich doppelt erklärt werden: Wenn man sich höhenmäßig, vom Meeresniveau aus betrachtet, immer weiter in lichte Höhen entfernt, steigt das Risiko, seinem Gehirn eine Mangelversorgung mit Sauerstoff zuzumuten, was wiederum zur Folge hat, nicht mehr klar denken zu können; im fünfunddreißigsten Stock, also ganz oben, kann einem schon einmal die sog. "Höhenkrankheit" (Durchblutungsausfall in Organen) ein Schnippchen schlagen; man redet wirres Zeug und ist nicht mehr Herr seiner Sinne.
Im übertragenen Sinne könnte die Botschaft des "Masters" (nicht nur geodätisch betrachtet) aber auch ganz anders gedeutet werden: Ihr da unten, wir hier oben – ihr sollt arbeiten, damit wir uns künftig, von der Grunderwerbssteuer befreite, Eigentumswohnungen für unsere Kinder leisten können; ihr könnt mit dem Fahrrad fahren, wir benutzen unsere verbrennungsmotorisierten, von Dienstchauffeuren pilotierten Luxusdienstwägen; wir sind die besitzende Klasse und ihr diejenige mit den zwei gesunden Händen; wenn ihr zu dämlich seid, holen wir uns die Fachkräfte aus dem Ausland …
Quelle: https://twitter.com/PendlDominik/status/1634224012325801984/photo/1
Wie auch immer jemand die nehammerische Angstheuchelei deutet – ich habe und hatte zu keiner Zeit eine jener Ängste, die das Kurzrelikt dem Volke vorzugaukeln versucht; wenn man vor etwas oder jemandem Angst haben könnte, wäre es der schwachsinnig anmutende Versuch Nehammers, sich und seine im Sumpf der Korruption dahinvegetierende Partie als diejenigen darzustellen, die etwas "Unmögliches möglich gemacht hätten", was wiederum, im Lichte betrachtet und mit ausreichend Sauerstoff versorgt, denkunmöglich ist.
"Wir haben in der Krise gezeigt, dass wir das Unmögliche möglich machen können" – dieser Satz träfe bestenfalls auf die "Schande vom Achensee", die "Schweinerei von Pertisau" zu, als man nach einer volltrunkenen Nacht in den Tiroler Bergen der absurden Idee verfiel, das Volk mit der Impfpflicht beglücken zu wollen; für kurze Zeit hatte es tatsächlich den Anschein, selbst das Unmögliche würde plötzlich möglich – vielleicht war aber auch dafür nur die relative Höhenlage (immerhin 952 Meter über Adria) des Achensees verantwortlich.
Um der ganzen Plapperei Nehammers die Spitze zu nehmen, muss sie mE zuerst einmal darauf reduziert werden, was sie war: Ein Frontalvortrag für türkise Claqueure, auf Knopfdruck Applaudierende, die (Schul-) Klasse derer also, die an einem Freitagvormittag auf ihre Arbeit pfeift, um einem Kurzverschnitt zu lauschen.
Nun aber zur Sichtweise des Dampfplauderers:
"Aus meiner Sicht daher, wenn ich an Österreich 2030 denke, stellen sich für mich 5 entscheidende Fragen:
- Bisher galt das Versprechen, jeder Generation ist es noch besser gegangen als der Generation davor – bleibt das so?
- Wie und wo werden wir in der Zukunft leben, gibt es Stadt und Land gleichberechtigt oder nur mehr Stadt?
- Werden wir im Jahr 2030 mehr "Work" oder mehr "Life" haben?
- Ist Verzicht die richtige Antwort und schließen Wohlstand Umwelt- und Klimaschutz einander aus?
- Wie sicher ist Österreich tatsächlich in einer veränderten Welt 2030?"
Das sind also diejenigen Themen, die einen bewegen, wenn er an das Jahr 2030 denkt; damit ist im Wesentlichen auch schon wieder alles gesagt; mir ist kein solches, generationsübergreifendes Versprechen bekannt; die Frage, ob es 2030 noch jemanden geben wird, der am Land (und nicht in der Stadt) lebt, ist ebenso absurd wie weltfremd; ob wir 2030 mehr "Life" oder "Work" haben werden, interessiert die besitzlose Klasse ohnedies nicht, die "Besitzenden" werden und können das (wie schon bisher) selbst entscheiden (der Klassenkampf ist damit eröffnet, der Neid der Besitzlosen (und damit ihre berechtigte Wut) wird immer größer werden und noch ungeahnte Höhen erreichen); Verzicht ist die richtige Antwort, weil sich wachsender Wohlstand mit Umwelt- und Klimaschutz nicht vereinbaren lässt; wie sicher Österreich 2030 sein wird, werden nicht wir sondern andere entscheiden.
Um diese Fragen zu beantworten, benötige ich keine ExpertInnen oder DenkerInnen – ich habe sie bereits beantwortet (das dauert keine halbe Minute).
Das einzige Thema, dem ich etwas abgewinnen könnte, wäre die "Schulbildung" der Kinder; die diesbezüglichen Aussagen eines Sprachkursabsolventen lassen allerdings erkennen, dass er sich selbst zu Heerschar jener zählen darf, die Bildung nicht einmal fehlerfrei zu buchstabieren in der Lage sind: "Wir alle wollen, dass Schulen ein Ort der Bildung und des Wissens sind, aber bitte nicht des Brennpunkts"; wir wollen Schulen, die auf das Leben vorbereiten und nicht auf Arbeitslosigkeit; die veränderte Welt muss der fixe Bestandteil des Unterrichts werden; es braucht ein Schulfach Programmieren ab der fünften Schulstufe – wie entsteht eine App, wie kann sie programmiert werden …"; Handwerk soll gar, ebenso wie Naturwissenschaften ein wertvolles Talent sein?
Es mag der Fall sein, dass ich das alles vollkommen falsch sehe, verstehe oder werte: Aber wie soll Schule ein Ort des Brennpunkts oder Handwerk ein Talent sein? Schüler sollen programmieren können müssen, damit sie eine App verstehen? Schule soll nicht auf die Arbeitslosigkeit vorbereiten?
Quelle: https://www.msn.com/de-at/nachrichten/inland/regierung-will-nach-coronajahren-die-hand-ausstrecken/ar-AA17wsW1?ocid=msedgntp&cvid=34081b901f95458cbad0a10d71cae295
Wäre ich mich nicht sicher, dass ein gewisser Karl Nehammer das alles verzapft hat, ich müsste annehmen, ein frühreifer Sonderschüler wäre am Wort gewesen … vielleicht unterliege ich aber auch dabei einem Irrtum; seit gestern ist in diesem Land so gut wie gar nichts mehr ausgeschlossen; je länger ich darüber nachdenke desto eher neige ich sogar dazu, Nehammer Recht zu geben, wenn er meint, er bzw. seine Regierung wäre in der Lage, sogar das Unmögliche möglich zu machen; vielleicht ist aber auch nur die Wirklichkeit nicht wirklich wirklich und Nehammer ein Genie – solange ich mir aber dessen noch nicht sicher bin, darf ich meine Zweifel hoffentlich anmelden.
Und, ein Hinweis für alle SchülerInnen Österreichs: Tuts ja brav lernen, sonst tut euch der Oberlehrer-Karli ganz fest schimpfen oder mit dem Zeigefinger drohen …
Chr. Brugger
11/03/2023