Olympische Spiele in Tokio
Seit 23.07.2021, dem Tag der Eröffnung der Spiele der XXXII. Olympiade hat sich viel ereignet - während der sportlichen Wettkämpfe, aber auch außerhalb, dennoch innerhalb der "Szene".
Athleten aus mehr als zweihundert Ländern haben an den Wettkampftagen Großartiges geleistet; einige Favoriten wurden ihren Erwartungen gerecht, andere wiederum konnten den hohen Ansprüchen an sich bzw. an sie nicht gerecht werden. Die Tage der Olympischen Spiele bringen auch immer wieder Sensationen mit sich, lassen Sportler erstmals im grellen Licht der Öffentlichkeit erscheinen, die man bis dahin nicht einmal dem Namen nach kannte, für die diverse Wettportale nicht einmal Quoten anzubieten hatten.
Anna Kiesenhofer beispielsweise, eine der Sportwelt bis 25. Juli 2001 verborgen gebliebene, dreißigjährige Mathematikerin, der an diesem Tag etwas dermaßen Außergewöhnliches gelang, das seinerseits Seinesgleichen vergeblich sucht.
Vor dem Rennen galt Kiesenhofer, rein sportlich betrachtet (im Sinne Jörg Fausers) selbst bei den Außenseiterinnen als Außenseiterin. Frei nach dem Motto des Evangelisten Matthäus "die Letzten werden die ersten sein", rollte die Mitarbeiterin der École polytechnique fédérale de Lausanne am gesamten Feld, zu Beginn vom letzten Platz aus fahrend, vorbei, um letzlich, mit mehr als einer Minute Vorsprung auf die niederländische Favoritin Annemiek Van Vleuten, das olympische Straßenrennen der Frauen zu gewinnen.
Ähnliches wie für Kiesenhofer gilt einerseits für den achtzehnjährigen Schwimmer Ahmed Hafnaoui aus Tunesien, der, als sechzehnter der Weltrangliste, als langsamster Qualifikant, das 400m Freistil-Finale der Männer erreichte und dieses, letztlich völlig überraschend, im Tokioter Aquatic Centre gewann.
Andererseits trifft dies auch auf die siebzehnjährige Lydia Jacoby aus Alaska zu, die über 100m Brust der Olympiasiegerin von 2016, Weltrekordinhaberin und große Dominatorin der letzten Jahre, Lilly King, (im wahrsten Sinn des Wortes) das Wasser im 50m-Schwimmbecken abgrub. Jakoby ist zudem die erste Schwimmerin des flächenmäßig größten Bundesstaates der Vereinigten Staaten von Amerika, die einem olympischen US Schwimm-Team angehört.
Kann man das Olympia-Gold der Österreicherin Anna Kiesenhofer mit "überraschend" umschreiben, gilt das ebenso für den Speerwerfer Neeraj Copra, der für Indien die erste olympische Goldmedaille in der Leichtathletik gewann.
Im Unterschied dazu kamen zwei weitere Sportlerinnen mit großen Erwartungen bzw. entsprechenden Vorschusslorbeeren sowie bereits reichlich vorhandenem "Edelmetall" aus den USA nach Japan: Kathleen Genevieve "Katie" Ledecky und Simone Arianne Biles. Nahezu auf den Tag gleich alt haben die beiden Ausnahmeathletinnen bis zum Beginn der Spiele der XXXII. Olympiade gemeinsam bereits neun Olympiasiege auf das Konto ihrer sportlichen Habenseite verbuchen können; dazu kommen noch unglaubliche vierunddreißig WM-Goldmedaillen.
Während Ledecky ihre umfangreiche Medaillensammlung umfangreich erweitert hat, verzichtete Biles nach dem Gewinn der Silbermedaille im Mehrkampf (Mannschaft) aus psychischen Gründen auf die Teilnahme an weiteren Wettkämpfen - ausgenommen das Finale am Schwebebalken, in dem sie die Bronzemedaille gewann.
Ihrer Favoritenrolle gerecht wurde jedenfalls die deutsche Dressur-Reiterin Isabell Werth, die nach Barcelona 1992, Atlanta 1996, Sydney 2000, Peking 2008, Rio de Janeiro 2016 und London 2020 auch in Tokio Mitglied der siegreichen Mannschaft war.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Zweiundfünfzigjährige älter ist als die drei Medaillengewinnerin in der erstmals ausgetragenen Disziplin Skateboard-Street Frauen. Momiji Nishiya (dreizehn), Jhulia Rayssa Mendes Leal (dreizehn) und Funa Nakayama (sechszahn) sind zusammen lediglich zweiundvierzig Jahre alt; selbst das Pferd von Isabell Werth, Bella Rose (Jahrgang 2004), ist älter als jede einzelne der jugendlichen Skateboarderinnen.
Das Maß an Beständigkeit bei mehreren olympischen Spielen, was Goldmedaillen betrifft, sind neben Isabell Werth die Polin Anita Włodarczyk im Hammerwurf sowie die Amerikanerin Kathleen Genevieve "Katie" Ledecky über 800m Freistil (jeweils 2012, 2016 und 2021).
Bei den Herren kommt dieser "Kategorie" nur der britische Kunstturner Max Antony Whitlock (Gold 2016, 2021, Bronze 2012) am Pauschenpferd sehr nahe.
Bemerkenswertes haben auch die Athleten Alessandra Perilli, Hidilyn Diaz Francisco sowie Flora Duffy zustande gebracht. Perilli hat San Marino die erste Medaille in der olympischen Historie des Landes beschert; Diaz Francisco (Kuba) sowie Duffy (Bermudas) haben jeweils das erste olympische Gold für ihr Land gewonnen; die eine im Gewichtheben, die andere im Triathlon.
Fixer Bestandteil bei der Vergabe olympischer Medaillen ist seit mehr als 1 ½ Jahrzehnten die US-Amerikanerin Allyson Felix. Nach ihrer ersten (silbernen) olympischen Medaille bei den Spielen in Athen (2004) gewann die Läuferin nicht weniger als 10 weitere, davon (in Folge) 4 goldene mit der 4 x 400m Staffel ihres Heimatlandes, wobei sie die Finalläufe jeweils mit drei unterschiedlichen Athletinnen bestritt. Bei den Spielen in Tokio waren dies die 400m Hürdenläuferinnen Sydney McLaughlin und Daliah Muhammad sowie die 800m Olympiasiegerin Athing Mu. McLaughlin (21) gewann in Tokio ebenso Gold wie Mu (19). Die beiden jungen Sportlerinnen sind drauf und dran, den langen Sprint- bzw. den kurzen Mittelstreckendistanzen ein neues Gesicht zu verleihen. Im Unterschied zu den Inhaberinnen der Uralt-Weltrekorde über 400m und 800m sind sowohl McLaughlin als auch Mu groß gewachsen, schlank und nicht so offensichtlich von körperfremden Substanzen "beeinträchtigt" wie ihre beiden Vorgängerinnen.
Neben sportlich herausragenden Leistungen gab es aber (leider) auch sportliche "Entgleisungen" bzw. Vorfälle, die man künftig bestmöglich vermeiden sollte.
Dazu gehören (neben zahlreichen COVID-19 Erkrankungen innerhalb des Dunstkreises der Olympioniken) insbesondere folgenden vier "Vorfälle":
- Athleten nur deshalb von Wettkämpfen fernzuhalten, um eine (sportliche) Auseinandersetzung mit Sportlern aus Israel zu vermeiden ist (aus welchen Gründen immer) nicht nachvollziehbar und verwerflich zugleich.
- Die politische "Auseinandersetzung" zwischen IOC und dem "offiziellen" Weißrussland hat weder mit dem Grundgedanken olympischer Spiele etwas zu tun, noch ist die damit einhergehende "Flucht" einer Athletin (über Österreich nach Polen) kompatibel.
- Die negativen Höhepunkte haben sich allerdings unsere "Lieblingsnachbarn" geleistet: "Hol die Kameltreiber" und "Hau mal richtig drauf! Hau drauf!" sollten künftig zumindest dann nicht mehr Bestandteil des Betreuer- bzw. Trainervokabulars sein, wenn es sich zum einen um Menschen, zum anderen um Tiere handelt, man diese Aufforderungen im öffentlichen Fernsehen anhören kann und sich danach, als wären die Anlässe selbst nicht bereits Anlass genug, auch noch tagelang auf diversen sozialen Medien damit konfrontiert sieht.
- Kann man diese überflüssigen Ausuferungen noch irgendwie, zumindest im Lichte situationsbedingten Erfolgsdenkens, verstehen, trifft das für einen weiteren Deutschen nicht zu. Die Sichtweise und Äußerungen des IOC-Präsidenten Thomas Bach sind der eigentliche Skandal rund um die Spiele in Japan.
Der seit 2013 amtierende IOC-Präsident, selbst jahrzehntelang mit diversen Vorwürfen konfrontiert, spricht selbstherrlich davon, es habe sich um keine "Geisterspiele" (Wettkämpfe ohne Zuschauer vor Ort) gehandelt, die Spiele hätten zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden, Hoffnung und Vertrauen geschenkt - nicht nur der olympischen Gemeinschaft, sondern (selbstverständlich) der ganzen Welt.
Bach findet auch, dass die Wettkämpfe in Tokio "absolut sauber" (bezogen auf illegale Substanzen) waren, glaubt sogar an einen Kulturwechsel in den Verbänden, die bislang ihren Athleten bereitwillig verbotene Mittel zur Verfügung gestellt hätten.
Eine solche Sicht der Dinge gleicht, in Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse, einer Realitätsverweigerung pathologisch-bedenklicher Art.
Wenn angesichts der Corona-Pandemie Dopingkontrollen nahezu zur Ausnahme und Zuschauer von den Spielen ferngehalten werden, kann man mit Sicherheit nicht davon sprechen, es hätten keine "Geisterspiele" stattgefunden oder die Wettkämpfe seien "absolut sauber" gewesen.
In diesem Zusammenhang ist es daher kein Wunder, dass mehr als 80% der Japaner lieber die Delta-Variante des Corona-Virus in Kauf nehmen würden als den ignoranten deutschen Sportfunktionär im Land zu wissen.
Das Problem dabei: Die Japaner hatten beides - leider sind sie mittlerweile nur einen "Feind" wieder los.
Chr. Brugger
11.08.2021