Naivität wird überschätzt
Ich kann mich noch sehr gut an ein Interview der in Kiew geborenen Deutschukrainerin Marina Weisband aus dem Jahr 2013 erinnern, das unter dem Titel "Naivität wird unterschätzt" in "Die Zeit" veröffentlicht wurde. Anlass dieses Interviews war ein kurz zuvor unter dem Titel "Wir nennen es Politik" veröffentlichtes Werk des ehemaligen Mitgliedes der Piratenpartei, das 2018 beim Bündnis 90/Die Grünen anheuerte.

Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/article106234783/Die-kabelhafte-Welt-der-Piratin-Marina-Weisband.html
Ein zentraler Absatz, der in "Der Zeit" veröffentlich wurde, lautete dabei:
"Naivität wird unterschätzt, gerade in der Politik. Natürlich brauchen wir Menschen, die richtig Ahnung haben. Aber auch Experten haben nicht immer recht, einfach nur weil sie Experten sind."

Quelle: https://www.klett-cotta.de/buch/Tropen-Sachbuch/Wir_nennen_es_Politik/31736
Nun konnte ich schon damals den Sinn dieser Äußerung nicht verstehen; wenn "Naivität" und "Ahnung" sich ausschließen und auf Experten kein Verlass ist, muss zumindest die Frage zulässig sein, wer uns dann sinnvollerweise regieren soll?
Heute, mehr als 8 Jahre später, muss ich feststellen, dass ich mich schon damals nicht getäuscht habe: Naivität wird überschätzt - hilflos und vollkommen.
Anlass für diese, neuerliche, Befundung ist der seit ein paar Stunden anhaltende Einsatz von Waffen im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland.
Das Verhalten Russlands, respektive dessen Präsidenten, wird - global betrachtet - überwiegend verurteilt, teilweise sogar mit obsessiv umschrieben; Putin selbst wird Realitätsverlust attestiert, Großmachtfantasie unterstellt.
All das mag zutreffend sein oder nicht, das Verhalten des russischen Präsidenten fanatisch-verrückt oder kühl kalkuliert - um das zu beurteilen fehlt es mir an der Kenntnis von Fakten.
Was ich allerdings sagen oder schreiben kann, ist Folgendes:
Seit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine wird noch deutlicher sichtbar, von wem der Westen "regiert" wird, wobei von "regieren" zu sprechen dem tatsächlich sichtbar Gewordenen nicht mehr gerecht würde - daher auch die Gänsefüßchen.

Quelle: https://www.handelsblatt.com/politik/international/ukraine-krieg-russland-im-krieg-gegen-die-ukraine-die-lage-zur-nacht/28100698.html
Unter dem "Westen" verstehe ich in diesem konkreten Anlassfall die Europäische Union (EU), die Organisation des Nordatlantikvertrages (NATO) und damit auch die Vereinigten Staaten von Amerika (USA).
Was angesichts dieser kriegerischen Auseinandersetzung auf dem europäischen Kontinent offensichtlich wird ist erschütternd; speziell für alle unmittelbar Betroffenen in der Ukraine, aber auch für all jene, die ihren Glauben an ein restlich verbliebenes Mindestmaß an Glaubwürdigkeit und Seriosität in der Politik noch nicht gänzlich verloren haben. Wer nicht längst "konvertiert" (im Sinne von geheilt oder geläutert) ist, sollte spätestens seit gestern zumindest erkennen, dass an der Spitze der zuvor genannten Gebilde (EU, NATO & USA) und deren sie im Dämmerschlaf umkreisenden Trabanten (Deutschland, Österreich & Co) sich nur solche befinden, denen Weisband in ihrem Interview noch eine Daseinsberechtigung unterstellt hat: Den Naivlingen aller Länder, die sich unter dem Deckmäntelchen oder Feigenblatt dieser unsäglichen Troika verstecken - Biden, Scholz, Macron ... und wie sie alle heißen. Naiv bis in die Enden ihrer Haarspitzen, von abstrusen Ideen beseelt, gutgläubig wie Kleinkinder, ausgestattet mit einem Selbstverständnis, dass bei jedem Hobbypsychologen die Alarmglocken läuten ließe.

Quelle: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/scholz-im-kreml-wer-hat-putins-sehr-langen-tisch-gebaut-17810536.html
Das Füllhorn der Demokratie global auszuschütten, "westliche" Werte allen Ländern dieses Planeten anzubiedern ist an und für sich kein falscher Zugang zu einer friedlichen "Welt". Wer jedoch davon ausgeht oder annimmt, damit könne auf ewige Zeiten das Auslangen gefunden werden, ignoriert die Realitäten, missachtet andere Sichtweisen, verkennt aus "westlicher" Sicht entartete politische Systeme, die rein wirtschaftlich betrachtet nicht minder erfolgreich sind als das, was der "Westen" zu bieten hat.
Wer immer noch der Märe verfällt, alles "Westliche" sei zumindest das relativ Bessere, dem Märchen, das von der Überlegenheit des "Westens" erzählt wird, verfallen ist (das lediglich aus den Federn glühender Europäer und fanatischer Amerikaner stammt), dürfte seit gestern wissen, dass mit Naivität allein kein Staat zu machen, vor allem kein Krieg zu gewinnen ist.

Quelle: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/bundestagswahl/id_90358956/nach-plagiatsvorwuerfen-debatte-um-baerbock-buch-das-tut-man-nicht-.html
Dieses böse Erwachen am gestrigen Morgen erhellt allzu deutlich, dass die eigene "Naivität der Vergangenheit" nicht nur hilflos überschätzt wurde, sondern vielmehr dem "Westen" - über Nacht - klar werden sollte, wozu Saturiertheit ("vollgefressen sein"), garniert mit einer Portion Präpotenz, führt. Dass man das hierzulande noch immer nicht verstanden hat, ist an den Wortmeldungen der heimischen, parteipolitischen Traummännchen zu erkennen. Welch sinnlos-absurdes Schauspiel hier Nehammer, Schallenberg & Co vollführen übersteigt bisweilen sogar das, was bislang selbst in den schlimmsten Albträumen nicht vorkommen konnte: Der Exinnenminister berichtet mit zittrig-gebrochen-theatralischer Stimme dem Nationalrat von einem soeben geführten sehr persönlichen "Todesangst"-Telefonat mit dem Präsidenten der Ukraine; einzig dafür habe er das "Plenum" verlassen müssen, schon im ersten Satz habe ihm Selenskyj gesagt, er wisse nicht, wie lange er noch am Leben wäre - was hat der Inhalt eines solchen Telefonates, so es stattgefunden hat, in der Öffentlichkeit verloren? Was will Nehammer damit bewirken, erreichen oder suggerieren? Ja, Russland hat die Ukraine überfallen, wir haben die Pflicht, unseren Beitrag zu leisten, um das Leid der davon Betroffenen in der Ukraine zu lindern. Medial missbrauchte Pressekonferenzen, das anhaltenden Plappern von Krisenstäben, nationalen Sicherheitsratssitzungen und sonstigen diplomatischen Bemühungen sind vollkommen überflüssig; handeln und nicht nur laufend reden, arbeiten, anstatt sich selbst zur Schau zu stellen, zumindest den Versuch zu unternehmen das zu tun, was man bislang entweder gar nicht oder falsch gemacht hat.
Ex- und wieder Außenminister Schallenberg faselt anhaltend von gravierenden Sanktionen für Russland - wenn es allerdings darum geht, Russland die "Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication" (SWIFT) zu kappen, scheitert die ach so große Solidarität aller EU-Mitglieder am Veto einiger, nationalstaatlicher Interessen, scheint darauf vergessen zu werden, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO u.a. vor allem am Widerstand Deutschlands gescheitert ist.

Quelle: https://www.zeit.de/news/2022-02/23/solidaritaet-mit-der-ukraine-brandenburger-tor-beleuchtet
Was in Österreich scheinbar noch Zeit braucht, hat man im benachbarten Deutschland scheinbar verstanden: Dort lässt sich der Tenor der politischen Reaktionen auf das Feststellenmüssen der eigenen Unfähigkeit in wenigen Schlagworten zusammenfassen:
- Wir werden nicht ernst genommen - die Bundeswehr ist nicht einsatzfähig, der Zustand der Bundeswehr ist erschreckend, sie ist unfähig, Deutschland zu verteidigen - unser völliges Versagen
- Handlungsfähigkeit? - da ist gar nichts
- Europäische Armee? - vollkommen realitätsfern
- "Wandel durch Handel" - bestenfalls eine Legende
- Wir waren viel zu naiv - nur hilflose Entschlossenheit
Auf den Punkt bringt es, dezent formuliert, Robin Alexander, Journalist bei "Die Welt", in "Die Woche Extra" bei Maischberger auf ZDF am 24.02.2022: "Wir sind in Teilen unserer Öffentlichkeit außer Kontakt mit der Realität geraten".

Quelle: https://www.derwesten.de/politik/olaf-scholz-wladimir-putin-ukraine-russland-kanzler-bundeskanzler-id234585825.html
Wenn unser lieber Herr Karl immer noch glaubt, "es gilt die Stärke des Rechts" und Schwalbi meint, Putin träte das Völkerrecht mit Füßen, dann wären beide gut beraten, sich in einer Einführungsveranstaltung zum Völkerrecht erklären zu lassen, dass es sich dabei schon wegen fehlender Sanktionen nicht um Recht im herkömmlichen Sinn handeln kann und Verstöße dagegen nicht geahndet werden, weil sich dafür kein Gericht zuständig erachtet.
Ein Letztes noch: Während sich unserer Möchtegernstaatsmänner noch schlaftrunken die Augen reiben, über ihre eigene Naivität staunen, wird der Krieg in der Ukraine längst beendet sein. Während in Europa über Hilfsmaßnahmen nachgedacht wird, hat Putin längst Tatsachen geschaffen, über die man dann wochen-, monatelang, jedenfalls nicht enden wollend und ergebnislos reden kann - dabei werden "Char-Schwalby" wieder zur Höchstform auflaufen; nichts anderes können sie und darin sind sie in ihrer naiven Scheinwelt die Besten.
Breaking News:
Nehammer berichtet aus dem Sicherheitsrat - es ist fast nicht vorstellbar: Die Geschichte würde neuerdings mit Blut geschrieben, die russische Föderation müsse die politische Macht der EU spüren - wovon redet dieser Mensch? Hätte er von politischer Ohnmacht gesprochen, wäre es verständlich gewesen; das schärfste Maßnahmenpaket würde verabschiedet, Russland massiv treffen - woher weiß das unser Charly? Oligarchen würde das Leben vermiest, Diplomatenpässe werden nicht mehr so ohne weiteres ausgestellt; Putin habe sich verspekuliert - dieses Mal habe die EU nichts verschlafen - eine Replik in die europäische Geschichte folgt- Polen, die Slowakei hätten Angst - dann faselt er vom Völkerrecht - wer das Völkerrechte nicht achte, halte auch von der Neutralität nichts - einstimmige Beschlüsse im Sicherheitsrat? Einstimmiger Antrag - Sicherheit und Landesverteidigung müssen ernst genommen werden; einstimmiger Antrag, dass das, was hier passiert, in der Ukraine, mit nichts zu rechtfertigen ist - wozu braucht man für Selbstverständlichkeiten einen Antrag??? Unsinn über Unsinn - einstimmig entschiedene Anträge - wir waren überwältigt von der Wucht der eigenen Beschlüsse (bei den Sanktionen gegen Russland); SWIFT ist keine Glaubens- oder Ideologiefrage ... so geht es pausenlos dahin, es bricht einem das Herz ... rührselig, naiv wie immer ... Glockengebimmel im ganzen Land ... nur übertönt vom absurde Panik-Gestammel eines scheinbar völlig desillusionierten, ehemaligen Innenministers.
Chr. Brugger
25/02/2022