Klimawandel im Ötztal

02.10.2020

Wir schreiben das Jahr 2035, ich befinde mich auf einer, knapp 3000 Meter über dem Spiegel des Meeres gelegenen, ehemaligen Skihütte in einem Liegestuhl, die Sonne scheint vom Himmel, neben mir steht ein großer Schwarzer (Kaffee) samt Sachertorte (wenn auch nicht aus dem fernen Wien). Nichts, rein gar nichts, erinnere mehr an den Zustand vor knapp zehn Jahren, meint der knorrig-bärtige Hüttenwirt; früher sei alles anders gewesen, vor allem viel besser, einträglicher, hektisch-betriebsamer, unterhaltsam-betrunkener; damals hätte man Wodka-Feige, Gin-Tonic und tatsächlich, wie in der Piefke Saga, Whisky on the rocks, sogar "Flügerl", kredenzt; es habe viele Joe´s gegeben, Morettis in vielfacher Ausfertigung, die deutsche Urlauberinnen kollektiv zum Erliegen gebracht hätten; zahlreiche Winterurlaubsromanzen wären die Folge gewesen, bei älteren Semestern, mit entsprechender Latenzzeit, die eine oder andere Ehescheidung. Das Angebot sei in diesem Teilsegment jedenfalls reichlich wie üppig gewesen, der Faktor Anstrengung hingegen äußerst bescheiden geblieben. Viel zu versessen sei das ski- und snowboardfahrende weibliche Volk gewesen; besessen von einheimischen Naturburschen mit kaum verständlichen Dialekt. Agrarisch anmutender Schmäh, offene Lederhosentüren und ausreichend Pheromone hätten genügend Charme und Anziehungskraft versprüht; der Rest sei dann nur noch Formsache, letztlich aber immer eine Frage der Ausdauer bzw. der Höhe des noch vorhandenen Testosteronspiegels gewesen.

Heute müsse man sich mit der "alten Garde" begnügen, wandernden, im besten Fall noch bergsteigenden, älteren Semestern, die überwiegend auf der Suche nach Ruhe unterwegs sind, den Ausblick genießen; den Ausblick auf ehemalige Speicherteiche, die man heutzutage künstlich erwärmt, um wenigstens von Juni bis Oktober Badetauglichkeit anbieten bzw. gewährleisten zu können; dazu den Ausblick auf schier zahllose Windräder, die anstelle von Gondeln und Sesseln die ehemaligen Seilbahntrassen bzw. sonstigen Aufstiegshilfen zieren. Weiblich attraktive Singles seien ebenso rar wie das Edelweiß oder der Schnee selbst; geschneit hätte es hier das letzte Mal jedenfalls um die Jahreswende 2031/32.

Viel zu spät habe man zur Kenntnis genommen, "überrissen", mein der Wirt, sich letzten Endes aber damit abfinden müssen, dass der Schnee nicht mehr fällt, die Temperaturen selbst in diesen Höhen im Winter an der +/- Nullgrenze halt machen, Schneekanonen im besten Fall noch als Berieselungsanlagen taugen, jedenfalls kein "weißes Gold" mehr zu produzieren in der Lage sind; die meisten davon hätte man ohnedies längst, recht verlustreich, verkauft.

Aus dem einstigen Wintersporteldorado sei nach und nach, in jedem Fall beharrlich-beständig, eine sommerurlaubstaugliche Wanderdestination entstanden, eine gemütlich unaufgeregte Gegend mit tiefblauen Badeseen in den Alpen, beschaulichen Windparks als Highlights. An den mit Sand aufgeschütteten Ufern befänden sich (leider) keine bikinitauglichen jungen Frauen mehr, sondern mehr oder minder gealterte, faltenreiche "Nilpferde" im züchtigen Badeanzug; im angrenzenden hohen Gras der Almen lägen keine liebestollen Pärchen, vielmehr nur die Verpackungen der von den Urlaubern mitgebrachten Selbstversorgung: Leere Flaschen, Sardinendosen, Papier, in dem sich vor der Ankunft Leberkässemmeln beheimatet fühlten. Im Unterschied dazu fand man sonst nach der Schneeschmelze zahllose, bunte, verbrauchte Kondome, verloren gegangene bzw. zerrissene Damenunterwäsche. Mit den vorgefundenen Relikten des heute gänzlich unbekannten Après-Ski hätte man problemlos einen florierenden second-hand-Laden betreiben können: Wärmende Oberteile aus Merino- oder Mohair-Wolle, Strümpfe aus bolivianischen Vikunja Bauchhaar, seidene Tops aus Lotusseide vom Inle-See; selbst mit Diamanten besetze BH´s habe man vorgefunden, mit kanadischen Daunen gefüllte Jacken, beheizte Snowboardhosen, Skischuhe und jede Mende Skier verschiedenster Marken, auf die die holde Weiblichkeit ob des eingetretenen "Verlustes der Muttersprache" ganz einfach vergessen habe; robuste, ausdauernd trinkfeste Naturburschen hatten nicht bloß das Erinnerungsvermögen zu Fall gebracht.

Seit knapp zehn Jahren sei es jetzt aber ganz anders, müsse man sich mit dem Backen kleinerer Brötchen zufrieden geben, lernen, auf jeden Luxus zu verzichten; Kredite würden einem nicht mehr aufgedrängt oder nachgeworfen, heutzutage sähe man sich mit Rückforderungsansprüchen konfrontiert, laufenden Mahnungen, peinlichen Exekutionen und lästigen Konkursanträgen.

So habe man zumindest versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Die ohnedies recht zahlreich vorhandenen Liftstützen habe man erhöht und mit schmucken Windkrafträdern bestückt; diese würden Strom erzeugen, den man einerseits zur Beheizung der ehemaligen Speicherteiche verwenden, andererseits gewinnbringend in das öffentliche Stromnetz einspeisen könne. Wurde früher reichlich Strom zugeleitet, so leitet man diesen heute überwiegend nur noch ab; ein paar alte, in die Jahre gekommene, Sessellifte verwende man noch als Aufstiegshilfe für solche Besucher, die zu Fuß ihr Ziel am Berg nie erreichen würden; man helfe ihnen sozusagen auf die Sprünge, transportiere auf den freibleibenden Sitzen gleichzeitig Essen und Getränke zu den restlich verbliebenen Hütten um dort im Bedarfsfall noch Brettljause, Kaspressknödelsuppe, kalten Schweinebraten mit Senf und Kren an den Mann / die Frau zu bringen. Dazu reicht man selbstgemachte Säfte mit Quellwasser, ab und an einen kleinen Selbstgebrannten, jedenfalls keinen Champagner mehr oder "gestörte Eier" (Kaviar). Nicht nur die eigene, auch die fremde Geldbörse sei schmal geworden, meint der Wirt. Stundenlanges abfeiern kenne man nicht mehr, trinkfeste Gäste ebenso wenig wie solche, die jeden Tag mit dem Vorsatz "no limit" bei lautstark-moderner Musik die "Puppen tanzen" ließen, um dann in den Kellerstübchen beim verbotenen Pokerspiel "all in" zu gehen. Der Altersdurchschnitt der Besucher habe ein Maß erreicht, bei dem man ernsthaft darüber nachzudenken beginne, Almhütten in Seniorenresidenzen umzubauen bzw. zu -funktionieren, ehemalige Luxusgerbergen als Erholungsheime für betuchte Deutsche, ehemalige Gäste, zu adaptieren; "slow motion holiday´s" statt "fast food" sozusagen, "strong reduction" anstatt "high emotion".

Manchmal erinnere man sich, im kleinen Kreis, noch an die Zeit, die keinen Klimawandel kannte, gegen einen solchen erhaben schien; Weltcuprennen im Oktober, die perfekte Werbung für den nahenden Winter; schneesicheres Gletscherskifahren fast das ganze Jahr hindurch; werbewirksame, mediale Präsenz beinahe zum Nullkostentarif. Fast in ganz Europa zumindest habe man die riesenslalomfahrenden Skiakrobaten bewundert, im Kampf um Hundertstel mitgefiebert; dazu das sonnenüberflutete Panorama einer Gegend in einem Seitental des grünen Inn. Tausende Zuseher an der Piste, live im TV, wochenlange Printmedienpräsenz davor wie danach. Man sei ein Ski-Fetischisten-Magnet der besonderen Art gewesen, für ein paar Tage der Mittelpunkt der alpinen (Ski-) Welt. Bereits 2006 hätte man spätestens reagieren, erkennen müssen, dass auch in der sölderischen Höhenlage das Wetter nicht mehr so recht mitspielen will, es zu warm werden könnte, sich, klimatisch bedingt, etwas verändert und man darauf keinen Einfluss mehr hat.

Daran wollte, nein konnte man nicht denken, wurde doch noch 2017 ein Rennen wegen zu starken Schneefalls abgesagt.

Man habe weiter an das "perpetuum mobile hieme", das ewige Andauern des Winters, geglaubt, darauf vertraut, dass der Gletscher nicht weiter abschmilzt, die Eisdecke nicht noch dünner wird, nicht einer ganzen (Ski-) Region sprichwörtlich der Boden unter den Füssen weggezogen werden kann. Als man all dessen gewahr wurde oder werden musste, waren Bedauern und Verwunderung groß, die bittere Einsicht hingegen zu spät.

Jahrelang wartete man auf Gäste, die letztlich nicht kamen; der Verkehr der jungen Burschen kam zum Stillstand, erreichte ein nie erahnbares Tief; telefonisch, via Email, Facebook und Instagram, waren die "ski bunnies" plötzlich nicht mehr erreichbar. Mangels fremden Verkehrs blieben, nebst den Skihütten, auch die ausgeschnittenen Blusen unter den Dirndlgewändern der die Speisen servierenden Mädchen leer.

"Rien ne va plus" - oder wie der Ötztaler (damals) zu sagen pflegte: "Storno statt Porno".

Gute Partien gab es nur noch beim Schach oder Backgammon; nach und nach machte sich, überwiegend naturgemäß in der Tourismusbranche, eine kollektiv-grassierende Lethargie breit, ein Vogel-Strauß-Syndrom befiel die Bevölkerung. Inn auf- und abwärts hatten Psychologen & Psychiater Hochbetrieb und alle Hände voll zu tun, die Angst vor der Zukunft, die traumatischen Auswirkungen umweltbedingter Rezession, die selbstmörderischen Absichten frustrierter Liftbetreiber usw., therapeutisch zu kalmieren.

Man war, der Not geschuldet, gezwungen, wieder auf Schaf- und Ziegenzucht, Weidetierhaltung und das, früher übliche, Ernten von Heu, Obst, Birnen und Zwetschgen zurückzugreifen, sich der väter- oder großväterlichen Ursprünge zu besinnen: Holzarbeit im Winter und Feldarbeit im Sommer. Nicht mehr jährlich neue Seilbahnen, besser ausstaffierte Zimmer, größerer Tische und längere Theken, modernere Schankanlagen, beheizte Schirmbars und vorgewärmte Sonnenliegen. Sparsamkeit wurde (wieder) zum Dogma des eigenen Handelns, "nicht kleckern, sondern klotzen" - ein Relikt aus vergangenen Tagen.

Man hat auch versucht durch den Bau der längsten Sommerrodelbahnen in den Alpen Gäste anzusprechen, die, so sie wollen, kilometerweit dahinmeandernd zu Tal fahren können; für noch älteres Publikum wirbt man (aufgrund der Höhenlage) mittlerweile mit gratis Masken, aus denen man Besucher im Bedarfsfall lückenlos mit Sauerstoff versorgen kann.

Das Problem dabei ist, dass sich eine Fahrt durch die Geröllhalden, die einst von Eis und Schnee verdeckt wurden, nicht sehr ansprechend gestaltet, Enzian und Alpenrosen weit und breit nicht zu sehen sind. So gibt es auch keine pflückbaren Schwarz- oder Preiselbeeren, Zirben sucht man ebenso vergebens wie Gämsen oder Murmeltiere.

Hört man sich in den zerstreuten Dörfern um, macht ein Gerücht beinahe überall die "Runde". Scheinbar denkt man ernsthaft darüber nach, das gesamte, durch die Schnee- und Gletscherschmelze zu Tage beförderte, Gestein zu sammeln und für die Errichtung eines Schutzwalles hin zum Inntal zu verwenden, dadurch das Tal vom verbleibenden Rest Nordtirols abzuschneiden. Das Ötztal wäre, ebenso wie das Kleinwalsertal oder das schweizerische Samnaun, nur noch vom Ausland aus erreichbar ist und könnte dadurch (noch einmal) zur einstigen Attraktivität aufsteigen. Mit dem Tourismus ließe sich eben leichter Geld verdienen als mit dem Melken von Kühen oder Holzschnitzerei.

Die Jugend allerdings ist längst abgewandert; wer jahrelang im Paradies gelebt hat und daraus, gleichsam bildlich-biblisch, vertrieben wurde, sucht sich andernorts ein neues. Heute erregen die "jungen Wilden" als selbsternannte "Beachboys", "surf guides" oder "wave rider", meist jedoch immer noch als "barkeeper", Eindruck und ebenso die (wieder zahllos erreich- und verfügbaren) Bunnies; an hippen Stränden, in mondänen Buchten und nach der "Arbeit" in klimatisierten Luxusherbergen; nur ab und an erinnert eine kurze Wasserskifahrt an ihre einstigen Künste im Schnee, anmutige Schwünge und tollkühne Sprünge; "Wellen statt Wehen", "flüssig, nicht fest" - "entre nous" längst geflügelte Worte (ötztalerische "insider").

So konnte man auch, zumindest nach und nach, das auf den bekanntesten Mann aus den Ötztaler Alpen zurückzuführende "Skilehrerimage" abgelegen, immer braun gebrannt und ohne Unterhose unterwegs zu sein oder eben nur ein wildgewordenes, tirolerisches Krokodil zu sein ("große Klappe, die ganze Kraft im Schwanz"). Hierorts trägt man keine "leather pants" mehr, sondern angesagt-schicke quick-dry surfing beach board shorts von Vilebrequin oder Paul & Shark; keine "plaid shirts" mehr, sondern Kurzärmliges von Jacob Cohen oder Prada.

Das einzig Erfreuliche an der neuen Situation sei derzeit in jedem Fall aber, dass es der (einstigen) Konkurrenz im Paznaun, im Zillertal, am Obertauern und in anderen, längst verwaisten Skiorten, nicht anders ginge. Geteiltes Leid sei jedenfalls, das erkenne man erst jetzt, minimalistisch gesehen, maximal halbes Leid; auch wenn es die eigene wirtschaftliche Existenz gefährde.

Und: Die Energiewende nimmt am Rettenbachferner endlich Wind und damit Fahrt auf; man leistet dadurch, wenn auch pikanterweise, seinen Beitrag zum Klimawandel; auch das sei ein erwähnenswertes Positivum - zumindest Wind gibt es hier (derzeit noch) genug. Aber selbst das kann schnell anders sein; auch der Wind kann sich drehen.


Chr. Brugger

01/10/20