Joan Margarit
Der katalanische Dichter und Architekt Joan Margarit i Consarnau ist am 16.02.2021 in seinem Haus in Sant Just Desvern, westlich von Barcelona, einer Krebserkrankung erlegen.
Margarit wurde am 11.05.1938, während des spanischen Bürgerkrieges, in Sanaüja, einem Dorf in der Provinz Lleida, als Sohn eines Architekten und einer Lehrerein geboren. Nach Abschluss der Schule studierte Margarit von 1956 bis 1962 Architektur an der technischen Universität Barcelona.
1962 lernte Margarit seine Frau, Mariona Ribalta kennen; die beiden heirateten im Jahr 1963 und bekommen vier Kinder: Monica, Anna, Joana und Carles.
Ab dem Jahr 1964 ist Margarit als Architekt tätig; er gründet 1970 gemeinsam mit Carles Buxad das heutige Architekturbüro 2BMFG mit Sitz in Barcelona (https://2bmfg.com).
Als Architekt arbeitete Margarit u.a. am Bau des Sühnetempels der Sagrada Familia, dem Olympiastadion in Barcelona, dem "Carlos Tartiere" Stadion in Oviedo, dem Campus der Universität Barcelona sowie dem Hauptgerichtsgebäude in Barcelona.
Literarisch wurde Margarit ab 1963, vorerst und gezwungenermaßen, in spanischer Sprache, tätig. Ab 1980 schreibt er, auf den Rat seines Dichterfreundes Miquel Martín i Pol hin, in katalanischer Sprache, der regionalen Amtssprache in Katalonien, seiner Muttersprache.
"Die Sprache zu ändern ist eine traumatische Angelegenheit, man spiegelt innere Dinge über sich selbst und gleichzeitig ist man erregt. Es ist wie ein Wechsel von Mann zu Frau, es hat zwei Seiten: Traurigkeit über das, was man hinterlässt und die Illusion für das, was beginnt".
In einem seiner letzten Interviews mit der spanischen Tageszeitung El País meinte Margarit dazu: "Bis ich mich mit Miquel Martin i Pol anfreundete und er sagt: "Meine Tochter, an die ich einen Brief von Ihnen übergeben habe, verzeihe mir, hat mich gefragt, warum du die Gedichte nicht auf Katalanisch schreibst". "Was ist, wenn es das ist?", frage ich mich. Weil es keine Literatur gibt, um es Ihnen zu erklären. In der Prosa geschieht das nicht, aber ich kenne kein Buch, das den Einfluss der Muttersprache auf die Poesie gut analysiert. Rilke, der auf Deutsch schrieb, hatte Gedichte auf Französisch geschrieben, aber sie sind wertlos."
Anfang Jänner 2021 äußerte sich der Dichter noch einmal zu diesem Thema, das ihn Zeit seines Lebens beschäftigte, wurde er doch in der Zeit der Franco-Diktatur dazu genötigt, das geliebte Katalanisch dem Spanischen zu opfern: "Ich bin mitten im Krieg geboren, und das hatte sprachliche Folgen: Sie gaben mir Coscorrones, um Spanisch zu sprechen und es mir gleichzeitig beizubringen. Nach Jahren des Schreibens auf Spanisch, als ich erkannte, dass ich anfangen musste, das Gedicht in meiner Muttersprache zu schreiben, gab mir unendliche Traurigkeit. Ich beschloss, dass ich es nicht wollte. Zu den Ungerechtigkeiten, die ich erlitten hatte, wollte ich keine weiteren hinzufügen."
"Der Bürgerkrieg zerstörte für mich eine Reihe von Autoren, die mir von schrecklichen Lehrern aufgezwungen wurden. Ich denke an Quevedo, in Géngora... sogar in Cervantes: El Quijote war Teil des Krieges", erklärte der, der in der Ruby der 1940er Jahre von einem Herrn mitten auf der Straße "für das Sprechen auf Katalanisch" einen Coscorrén erhielt.
Via Twitter würdigte der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez Margarit als "Architekt der Wörter". Seine Genialität mit der Feder sei immer von der Wertschätzung seiner Leser begleitet gewesen. "Er ist einer unserer meistgelesenen und geschätzten Dichter und hinterlässt große Spuren in unserer Literatur".
Das Werk Margarits zeichnet sich vor allem durch sein biografisches Kolorit aus; seinen Kindheitserinnerungen, die Zeit des Krieges, die Franko-Diktatur, den Tod zweier seiner Töchter, die Verbindung von Literatur und Architektur - alles wird sehr häufig von Musik, vor allem dem geliebten Jazz, begleitet:
JAZZ
Wir nahmen ihn mit zu seinem ersten Konzert.
Er stand sehr still zwischen uns beiden.
Saxophon und Klavier standen im Rampenlicht.
In der Düsternis
bemerkte ich in seinen schüchternen Augen das Augenzwinkern der Instrumente.
Der tiefste Grund
für die Musik wird sein Mantel gegen Hilflosigkeit sein.
Du wirst die Wärme deiner toten Schwester haben.
Und unsere Familie. Bei jedem Konzert.
Es ist der Jazz, der ihn speziell mit seinem Sohn, dem Saxophonisten Carles Margarit, verbindet. Gemeinsam mit dem Dichter Pere Rovira entwickelte er die Show "Paraula de jazz", trat mit den Jazzmusikern David Mengual, Perico Sambeat und Xavier Monge auf. "Jazz deckt eine Leere ab. An den Tag, an dem ich den Jazz entdeckte muss ich 35 Jahre alt gewesen sein und mein Himmel öffnete sich".
Einer der am meisten gelesenen Dichter der katalanischen Literatur feierte seinen 80. Geburtstag mit einer Neuauflage der Anthologie "Alle Gedichte" (1975-2015), einer poetischen Autobiografie.
2019 erhielt Margarit als "großer Architekt der Poesie als moralisches Instrument" den XXVIII. Reina-Sofía-Preis für iberoamerikanische Poesie. Sein Werk nimmt zweifellos einen herausragenden Platz im Panorama der zeitgenössischen katalanischen Poesie ein. Die meisten Werke wurden von ihm selbst ins Spanische übersetzt; er hat auch Werke ins Deutsche, Baskische, Hebräische, Englische, Portugiesische und Russische übertragen.
Im selben Jahr wurde Margarit mit dem Cervantes-Preis, dem wichtigsten Literaturpreis der spanisch sprechenden Welt, ausgezeichnet. Benannt ist der Preis nach Miguel de Cervantes, dem Verfasser des Don Quijote. Die Auszeichnung bezieht sich nicht auf ein einzelnes Werk, sondern auf das Lebenswerk des jeweiligen Preisträgers.
Nach dem Erreichen der Nachricht über die Verleihung des Preises an ihn äußerte sich der Poet dazu: "Der Preis ermöglicht Poesie als Werkzeug des Komforts, um mehr Menschen zu erreichen".
"Wenn ein Gedicht einen Menschen in einer schwierigen Situation nicht trösten kann, ist es als Gedicht wertlos", fügte der Dichter hinzu, der der Ansicht war, dass der Preis es ermöglicht, mehr Menschen zu trösten. Margarit betonte, dass "dieses Genre nicht die arme Schwester der Literatur", Poesie nicht so einfach sei wie Prosa.
"Poesie hat sicher mehr mit Musik als mit Literatur zu tun"; er ergänzte, dass es dumm sei zu denken, Dichter würden für sich selbst schreiben: "Ich bin getröstet von der Poesie anderer". Nach Ansicht Margarits ist der Unterschied zwischen Literatur und Poesie sehr groß. Der offene Charakter eines Gedichts sei der Musik näher als der Poesie; in Romanen müssten sowohl die Charaktere als auch ihre Umgebung auf einer anderen Ebene und ausführlicher als in einem Gedicht ausreichend beschrieben werden. Andererseits sei die obligatorische Gestaltungsfreiheit des Lyrikers nur mit der des Musikalischen vergleichbar; dadurch ist der Dichter dem Komponisten näher als dem Romancier.
Einen besonderen Stellenwert im Œuvre des Dichters nimmt die Symbiose zwischen Poesie und Architektur ein. Nicht nur in seinen Gedichten, vielmehr noch in zahlreichen Interviews spiegeln sich die harmonischen Verbindungen dieser beiden künstlerischen Disziplinen. Die theoretische Grundlage hat Margarit in mehreren Interviews u.a. so erklärt:
"Architektur ist im Grunde die Kunst der Gewichtsverteilung; Poesie ist das auch, wenn auch metaphorisch. Man könnte eine Parallele zur Poesie bilden, die versucht, sentimentale Gewichte auf subtile, komplexe, intensive, niemals gewöhnliche Weise zu harmonisieren. Poesie und Architektur fließen in ihrem abstrakten Charakter zusammen. Das Wort ist abstrakt: Ein Klang, ein paar Zeilen auf einem Blatt Papier. Der Raum ist auch abstrakt. Prinzipiell ist es gar nichts, doch plötzlich entwickeln sich beide zu einem guten Gedicht oder einer Kathedrale. (...) Und ich denke, dass ich irgendwie, wenn ich über Architektur spreche auch über Poesie spreche; zumindest aus dem, was ich unter Poesie und Architektur verstehe."
Den Einfluss seiner Tätigkeit als Architekt umreißt der katalanische Poet u.a. so: "Der Einfluss der Architektur auf mein Leben ist tiefgreifend und war oft im Umfeld meiner Arbeit, wo ich meine Gedichte geschrieben habe. Einige von ihnen sind eine direkte Folge der Arbeiten zur Verstärkung und Umgestaltung bewohnter Gebäude in den Vierteln, die sich damals in der Peripherie befanden. Andere Gedichte entstanden während der Absicherung und Restaurierung von Denkmälern, die am Rande seines Einsturzes waren, wie das, das in Erinnerung an Christoph Kolumbus anlässlich der Weltausstellung von Barcelona von 1888 errichtet wurde: Eine Bronzesäule von sechzig Metern Höhe, wo die Rambla in den Hafen mündet.
Viele meiner Gedichte der achtziger und neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sind während des Baus von großen Gebäuden über eine lange Zeit geschrieben worden, wie die acht Baujahre des Olympiastadions von Montjuc, oder die dreißig Jahre beim Bau an der Sagrada Familia.
Architektur begeistert mich in einer Reihe von Fällen. Ich erinnere mich an einen dieser Anlässe, als ich eine Darstellung der Antigone de Sofocles im Erdgeschoss der Bibliothek von Katalonien besuchte, die im Mittelalter das Hospital de la Santa Creu war. Es ist ein langgestreckter, tadelloser gotischer Raum, der mit einer gewölbten niedrigen Decke aus Stein und den Steinmauern gebaut wurde. Die Architektur hat sie nie übertroffen. Pilaster, Rosse, Säulen, alles andere, erreicht nie die Kraft der Mauer und des Gewölbes allein. Aber in den meisten Gebäuden gibt mir Architektur solche Erfahrungen nicht. Nur in einem eigenen Werk habe ich diese Emotion gespürt: Es ist die auf dem Cover meines Gedichtbandes "Berechnung von Strukturen", eine Metallkuppel von großem Licht, die Carles Buxadé und ich in Vitoria berechnen und bauen. Das war die Arbeit, in der ich als Architekt näher war, als ob ich so etwas wie ein Gedicht mache."
Architektur betrachtet Margarit nicht so sehr als Arbeit im herkömmlichen Sinn, als "Broterwerb", als eine schnöde Beschäftigung im herkömmlichen Sinn: "Ich danke meiner wissenschaftlichen Ausbildung (34 Jahre als Professor für Strukturberechnung an der Escuela Superior de Arguitectura de Barcelona) mehr als Architektur als "Bella Arte"; eine geistige Disposition, die mir sehr geholfen hat, auf die Reihenfolge und Klarheit zuzugreifen, die ich für meine Gedichte brauchte. Ich denke, es ist kein Zufall, dass das Kalkül versucht, maximale Festigkeit und Stabilität mit dem Minimum an Material (im Allgemeinen Stahl oder Beton) zu erreichen; Poesie versucht, das Maximum mit einem Minimum an Worten zu sagen".
Die Berechnung einer Struktur sei immer dann gelungen, wenn minimales Material verwendet wurde, um maximale Beständigkeit zu erreichen. Man sollte nicht mehr in der Lage sein, etwas wegzunehmen oder etwas anderes hinzuzufügen; bei einem Gedicht sei es dasselbe.
"Es war die Arbeit - abgesehen von der Sagrada Familia - deren Bau länger gedauert hat als mein Berufsleben, weil wir 1974 damit begonnen haben, sie auf einen Viehmarkt zu projizieren; wir haben den Bau 1998 abgeschlossen. Es ist eine komplizierte Geschichte: Die Kuppel, kugelförmig, aber sehr flach, kreisförmig im Plan, begann mit achtzig Metern Lichte im Durchmesser, eine Lichte, die damals schwer zu erreichen war. In den späten achtziger Jahren wurden wir beauftragt, zusammen mit dem Architekten des Provinzrates von Alava, die Kuppel auf hundert Meter Lichte zu erweitern und um zwanzig Meter zu erhöhen, so dass wir im Inneren, da es einen viel größeren Raum gab, eine Sporthalle bauen konnten, die bis zum Abriss im Jahr 2011 funktionierte. Ich liebte diese Struktur, und in meinem Buch "Das Signal ist verloren" (2012) gibt es dieses Gedicht":
Eine Struktur
Als ich ein junger Mann war,
hob ich die Kuppel aus einer eisernen Struktur.
Es ist ein paar Monate her, dass sie abgerissen wurde.
Ein Blick an den Ort, an dem sie endet.
Das Leben ist absurd.
Dort aus, wo sie enden wird, ist das Leben absurd.
Aber die Bedeutung wird durch Vergebung geschehen.
Jeder denkt mehr über Vergebung nach.
Ich lebe unter ihrem Schatten.
Gnade für eine eiserne Kuppel
und Vergebung für diejenigen, die sie abgerissen haben.
Als Margarit, sechszehnjährig, begann, Gedichte zu schreiben, war der Grund dafür ein mehr oder weniger "profaner": Er hatte sich in ein Mädchen verliebt. "Ich schrieb ihr das einzige Gedicht von mir, das ich auswendig kenne und das einzige, das ich nie rezitiert habe oder öffentlich rezitieren werde"; Gedichte, Kommunikationsmittel, um Frauen zu umwerben. - "Die Liebe hat mich zum Dichter gemacht, aus Liebe bin ich Dichter geworden".
Wichtiger als das erste Verliebtsein, ausschlaggebender für seinen Werdegang hin zum Dichter von Weltrang dürften aber die "Begleitumstände" dieser Episode gewesen sein. Teneriffa kreuzte das Leben von Joan Margarit; sein Vater hatte sich bereit erklärt, als Architekt für das Ministerium für Wohnungswesen in der Nachkriegszeit auf der Insel zu arbeiten. "Wir kamen erdrückt auf der Insel an, nachdem wir an 10 oder 15 verschiedenen Orten gelebt hatten und immer am Elend hingen. Wir liefen der Welt davon. Niemand hat erwartet, das zu finden, was wir nach dieser Bootsfahrt gefunden haben". - Santa Cruz de Tenerife, ein Wendepunkt im, bis dahin, sehr tristen Leben des Joan Margarit.
"In Santa Cruz habe ich mein erstes Gedicht geschrieben. Ich schrieb es am Fenster hin zur Manuel Verdugo Straße, in der Nähe der sogenannten Alles des Asyls, mit Blick auf den kleinen Hafen, mit den so wenigen Lichtern dieses geliebten und ersehnten Santa Cruz".
Die Empfängerin seiner Liebesverse sei keine Einheimische gewesen; Inspiration für das Gedicht war eine Studentin an der Las Mimosas Hight School, in die Margarit zum ersten Mal in eine Klasse mit Mädchen ging, was im Franquismus nichts Alltägliches war: Mari Carmen - "Ich habe mich sofort in sie verliebt".
Mitten im Bürgerkrieg kam er auf die Welt und erst im Alter von 16 Jahren lächelte er zum ersten Mal über sein Leben auf der geheimnisvollen Insel, wie Teneriffa in einem Gedicht in "Ein atemberaubender Winter", bezeichnet wird. So wurde Teneriffa für immer "Die Schatzinsel", ein Ort und eine Zeit, die er nie vergessen würde. "Ich bin in der Pubertät angekommen. Es war ein sehr schöner, sauberer, freundlicher Ort. Und es war mein Haus."
"In meinem Leben war ich an sehr wenigen Orten so glücklich wie in Santa Cruz. Mehr als so glücklich würde ich sagen, um genauer zu sein, dass nur sehr wenige Orte wie Santa Cruz mir ebenso wie diese Jahre und Sommer bedeutet haben."
Von einer "Esel-Tour" zum Pico del Teide berichtet Margarit: "Diese Landschaft von oben, ohne irgendjemanden, zu betrachten, war unvergesslich, unvergesslich, unvergesslich... Ich werde es nicht müde, das zu wiederholen." Margarit, der sofort als "der Katalane" bezeichnet wurde, schloss, in einem Klima von Herzlichkeit und Zuneigung, zahlreiche Freundschaften, u.a. zu Joan Cruz, einem bekannten spanischen Journalisten. "Ich floh vor dem Elend des Bürgerkriegs und kam in eine warme und herzliche Stadt. Für mich war es, von der Hölle in den Himmel zu gehen. Eine enorme Lehre. Santa Cruz hat einen großen Stellenwert in meinem Leben eingenommen, mich vor vielen Dingen bewahrt, ich verdanke Santa Cruz viel."
In den Anfängen seiner Schriftstellerkarriere war der chilenische Nobelpreisträger Pablo Neruda, geboren als Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto, sein literarisches Vorbild. "Als ich jung war, wäre ich gerne Neruda gewesen". Neruda lehnte das Konzept einer "reinen" Poesie, im Sinne eines Paul Valery, entschieden ab und stellt sich in Walt Whitmans Tradition einer "unreinen" Poesie, die dem Weltbezug den Vorzug vor Konstruktion und Musikalität zukommen lässt. Ganz ähnlich liest sich die "Schreibphilosophie" von Margarit: "Hören Sie, ich brauche ein Leben, um Gedichte zu schreiben und mit dem Leben meine ich, ein emotionales Leben, ein Familienleben, ein Berufsleben, ein wirtschaftliches Leben. Wie werde ich über das Leben schreiben, wenn ich nie wirtschaftliche Probleme hatte? Wie werde ich über das Leben schreiben, wenn ich nie eine Frau geliebt habe, von einer Frau zurückgelassen wurde oder wegen einer Frau gelitten habe? Wie werde ich über das Leben schreiben, wenn ich nicht weiß, wie es ist, ein Kind zu haben?"
Übrigens: Im Jahr 2017 erhielt Margarit den Pablo Neruda Ibero-American Poetry Award, Auszeichnung des Chilenischen National Rats für Kultur und Kunst (CNCA) des National Council of Culture and the Arts, der an Autoren mit einer anerkannten Karriere in der Welt der iberoamerikanischen Poesie verliehen wird. Die Jury anerkannte "das Katalanische als Fähigkeit, formale Schönheit und Emotion uns sein Engagement für Leben und Tod zu vereinen".
Einer der ebenfalls prägenden Einflüsse war die Einsamkeit, in der das Kind Juan Margarit "hineingeboren" wurde. Ständig geänderte Wohnsituationen und Schulen, die keine Freundschaften mit Gleichaltrigen zuließen; der Tod der kleinen Schwester wegen fehlender Medikamente in Zeiten der Entbehrung, einer Mutter, die das Kind mit ihrem Weltschmerz verwechselt, die ihre Zuneigung nicht zum Ausdruck bringen kann.
Mit diesen Eindrücken war von Anbeginn an das Gefühl des Verlusts verbunden. So beschreibt er den Tod seiner Schwester sehr rührend und einfühlsam in einem Interview: "Ich? Vier Jahre... Ich sah sie sterben. Meningitis. Vor drei Jahren war der Krieg zu Ende und wir lebten in einem Dorf, Ruby, wo meine Mutter einen Platz als Lehrerin bekommen hatte. Es war dunkel... Wir hatten nicht einmal Strom in der Stadt. Und die Erinnerung daran ist ein Herd, meine Großmutter, meine Schwester in der Krippe und ein paar Kerzen. Meine Großmutter wurde nervös, weil das Mädchen nicht gut atmete. Sie sagte: "Hör ihr zu und sieh, ob sie atmet." Meine Mutter war weg, mein Vater arbeitete in Girona, aber irgendwann kamen sie zurück. Der Arzt kommt, erkennt das Baby, meine Großmutter vermittelt mir diese Angst vor dem, was vor sich geht, aber ich habe es nicht gut verstanden... Meningitis, keine Antibiotika, was? Und das Mädchen stirbt. Also, ich weiß nicht, woher das kommt, aber ich sage: "Mach dir keine Sorgen, du hast mich..." Und so haben wir angefangen zu verlieren. Jener Junge, der mit dem Urinal in den Hof ging, Monate später, in absoluter Nacht, in völliger Dunkelheit. Die Kälte spüren, wenn ich mein Höschen runterlege. Ich habe nicht vergessen, was Einsamkeit und Nacht ist. Diese Dinge bleiben übrig und dann ändert man es nicht mehr."
Margarit misst dem Verlust eine nicht geringe Bedeutung bei: "Verlust ist wichtig. Ansonsten würde das Leben durch die Einnahme einer Soma-Kapsel gelöst werden, wie in Huxleys A Happy World. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Tiere sind: Wenn man eine Reihe von Risiken wegnimmt, würden wir dieses Leben nicht in Betracht ziehen."
Verlust hat den Poeten auch insofern geprägt, als er zwei seiner Töchter sterben sehen musste. Vor allem seine Tochter Joana hatte prägenden Einfluss auf sein Leben, sein Werk.
Joana litt am sog. Rubinstein-Taybe-Syndrom, einer genetisch bedingten Erkrankung, die mit geistiger Behinderung und körperlichen Fehlbildungen einhergeht; sie verstarb, dreißigjährig, 2002. Für sie hat Margarit das Buch "Joana und andere Gedichte" geschrieben; Joana wurde zu einem der großen Trauerbücher der universalen Literatur in den letzten Jahrzehnten.
Margarit hat, seinen eigenen Worten nach, das Schreiben des Buches als Erlösung verwendet und gesehen. "Die sechs Monate, als sich die Distanz zwischen Emotion und ihrem Bewusstsein auf fast Null verkürzte, zwang ich mich, über den Tod meiner Tochter nachzudenken und dadurch eine gewisse Kontrolle auszuüben, um nicht von der Tragödie überwältigt zu werden".
In seinem großen Gedichtzyklus versucht Margarit, immer wieder neue Worte für den unfassbaren Tod seiner Tochter zu finden. Im Unterschied zu seinem "Jugendidol" Neruda, der ebenso wie Margarit eine Tochter im Säuglingsalter verloren hatte, konnte der Katalane über den Tod seines Kindes zumindest schreiben. "Ich hatte das Glück, in einer vergleichbaren Situation nicht fliehen zu können. Neruda hatte dieses Glück nicht."
Margarit hat, auch das unterscheidet ihn vom Chilenen, seine Tochter nicht negiert, nicht einfach aus seinem Leben hinausgeschoben, vielmehr ihre Existenz mit allen Konsequenzen akzeptiert.
Das Einzigartige an "Joana" ist vor allem, dass der Dichter an keiner Stelle rührselige Betroffenheit aufkeimen, Mitleid nicht ins Spiel kommen lässt.
"Mit der Stirn an der Fensterscheibe
bitte ich meine beiden toten Töchter
mir zu verzeihen,
weil ich kaum mehr an sie denke.
Die Zeit hinterließ trockenen Lehm auf der Wunde.
Und trotz aller Liebe beginnt das Vergessen".
In der Einleitung zum Buch schreibt Margarit: "Die Welt ohne Joana ist der, die wir gemeinsam erlebten, ähnlich, aber sie ist nicht gleich. Winzige Unterschiede weisen mich darauf hin, dass die Menschen, die Orte und die Dinge nicht die vertrauten sind. Ich stehe also vor dem reinsten Schrecken ... Von nun an wird der Rabe von Poe in mir sein herbes "Nevermore" unaufhörlich wiederholen."
"Überall tauchte Joana auf
Von überall erschien der Blick jenes entstellten Körpers,
von dem ich lernte, was Schönheit ist.
Die Spiegel der Nacht gaben ihr Lachen wieder,
das gleiche Leben, das uns die letzten dreißig Jahre umgab.
Ich frage: Joana, was machst du hier?
Von überall antwortete es: Ich entferne mich,
um euch das Leben nicht noch einmal zu zerstören."
Am Ende des Gedichtes "Während du schliefst" schreibt Margarit:
"Mich besorgte sehr, dich allein zu lassen.
So schwach und klein das erleuchtete Fenster in der Nacht auch sei,
dies ist der Trost: Es wird keine größere Verlassenheit mehr geben als meine".
Im März 2020 wurde bei Margarit ein Lymphom diagnostiziert; er ließ neun Chemotherapien über sich ergehen und verstarb Mitte Februar 2021.
Auf die Frage, ob er Angst vor dem Tod hätte, meinte Margarit: "Wenn er jung ist, ja. Das Einzige, was Ihnen eine gewisse Distanz zum Tod gibt, ist das Alter".
Sinnbildlich für die Haltung Margarits ist u.a. folgender Satz: "Ein Gedicht zu schreiben ist viel schwieriger als zu sterben: Nicht alle Menschen können ein Gedicht schreiben, das Sterben ist in Reichweite aller."
Herz und Seele gingen verloren als du weggingst.
Wort- und grußlos hast du mich verlassen
nur unser Schmerz ist übriggeblieben.
Wehmut, Gedanken, alles umsonst,
du bist nicht mehr da neben mir,
das was blieb nennt sich Erinnerung,
kein Trost und keine Linderung.
Nicht ein kleiner Stern fiel vom Himmel,
die Welt, sie dreht sich nicht mehr.
Aus den Angeln gehoben, verloren
eine Tür ohne Ein- und Ausgang.
Welch, wie ein Herbstblatt am Boden,
dürr, wie Geäst am sterbenden Baum,
ohne Wasser, ohne Hoffnung, entwurzelt.
Chr. Brugger
31.03.2021