Jeder für sich und alle gegen einen
Dass man, bloß ausstaffiert mit Hosensäcken voller "Mitleid", im Lande Österreich eine Nationalratswahl problemlos und souverän gewinnen kann, hat man am 29.09.2019 erfahren dürfen. Um im Parteienranking ganz vorne zu landen, muss man hierzulande weder über eine Berufsaus- oder sonstige Bildung verfügen; nein, nein - es genügt der Hinweis darauf, dass alle (anderen) gegen einen sind, man so arm ist und keiner einen mag; dazu würde man laufend angepatzt, in einem völlig falschen Licht betrachtet ... ach, wie sei man doch arm, das ungeliebte Kind einer Neidgenossenschaft; man muss nur dem Volke weinerlich genug erklären, warum einen die politische Konkurrenz verhindern will und - flugs - schon ist man "number 01" ...
Dass sich die hauseigene Gesinnungsgenossenschaft im Gewande einer an den Grenzen der Debilität anstreifenden Buberl- und Mäderlpartie hinter dem hochstilisierten, selbstinszenierten Märtyrer der Nation, auch vor dem Hintergrund strafrechtlich relevanter Vorwürfe, vereint, dort (Selbst-) Schutz zu suchen findet, versteht sich von selbst. Dass diese "Solidarität" auch für gestandene, schwarze Landeshauptleute gilt, verwundert, entbehrt aber keinesfalls einer gewissen Obskurität oder Skurrilität.
Es sei aber, wie es sei - allen Beteiligten sei deren Verhalten unbenommen.
37,46% ist eine Marke; 71 Mandate sind zumindest die relative Mehrheit - wie immer das Ergebnis zustande gekommen sein mag. Das Volk (bzw. 75,6% der Wahlberechtigten) hat entschieden und das ist in einer demokratischen Republik, in der das Recht vom Volk ausgeht, zur Kenntnis zu nehmen.
Nun ist eine Situation eingetreten, in deren Gefolge bzw. an deren Ende die (zweite) Amtszeit des Bundeskanzlers stehen könnte. Sein Rücktritt wird von der parlamentarischen Opposition (SPÖ, FPÖ, NEOS) gefordert: "Kurz muss weg".
Selbst der bislang treudienende Steigbügelhalter der Nation, "Die Grünen", kann sich eine Zusammenarbeit mit einer von Kurz angeführten türkisen ÖVP nicht mehr vorstellen. Damit ist, vorerst, die (politische) Karriere unseres Maturanten beendet; als Bundeskanzler wird er, allem Anschein nach, am 12.10.2021 Geschichte sein; es sei denn, der "grüne" Selbstzerstörungstrieb ist bereits so stark ausgeprägt, dass man weiterhin bereit ist, selbst Kurz auch künftig noch zu ertragen.
Wie man die Amtszeit von Kurz & Co (wenn überhaupt) bewerten soll, ist jedem einzelnen Bürger dieses Landes freigestellt; was bleiben wird ist jedenfalls die Erinnerung an den kometenhaften Aufstieg einer politischen Nachwuchshoffnung, ausgestattet mit verführerischer Selbstdarstellung und einem Hang zu Machenschaften, die vom Bereich des Kriminellen nicht allzu weit entfernt sein mögen. Moralisch-ethische Maßstäbe haben mit (Tages-) Politik zwar wenig zu tun - aber auch daran wird Kurz, retrospektiv betrachtet, zu messen sein bzw. gemessen werden.
Nun wäre Kurz, das meine ich tatsächlich so, würde er nicht von Köstinger, Edtstadler, Nehammer, Sobotka, Wöginger & Co umgeben, wahrscheinlich sogar als Bundeskanzler tragbar; als und ausschließlich als Frontman; zum Inhaltlichen könnte er, vermöge seines weithin sichtbaren Unvermögens, ohnedies nichts viel beitragen. Im Gefüge oder Umfeld seiner Genossenschaft ist Kurz aber nicht tragbar, wird unerträglich. Das hat aber nichts mit der momentanen Lage der Nation zu tun - die ist, wie sie eben ist.
Wenn jemand von seiner Gefolgschaft, götzenbildhaft, mit brechreizerregend-devoter, dem eigenen Unvermögen geschuldeter Dekadenz so hochstilisiert wird, dass man ihn als sakrosankt betrachtet, dann darf man sich nicht wundern, wenn sich die (politische) Gegnerschaft (inklusive der "Grünen") gegen den vermeintlichen Hero formiert. Sakrosankt versteht die türkise Brühe scheinbar im Sinne des Prinzipats der römischen Republik: Unverletzlich und hochheilig - im besten Fall mit einem Eid abgesichert. Auch das ist ein, längst abgeschlossenes, wenn auch trauriges, Kapitel in der kurz´schen Kurzbiographie.
Was man allerdings im Lande Österreich aus diesem Szenario macht, stellt die türkis-schwarzen Hochmütigkeit, die wahnwitzige Selbstüberhöhung, die an eine kitschige Hollywood-Parodie erinnernde, schmalzige Märtyrer-Rolle, noch bei weitem in den Schatten.
Puls 24, oe24.TV & Co schlachten die ohnedies bereits tot Kuh, gleichsam im Stundentakt, noch einmal und immer wieder, geben damit den Protagonisten im politischen Sandkastenspiel eine Bühne, auf der sich ÖVP, SPÖ, FPÖ, NEOS, abgehalfterte "Altpolitiker/innen" aller Couleurs und sonstige Möchtegernpropheten herumtummeln dürfen. Szenarien werden entwickelt, Prognosen hinausposaunt, aus imaginären Glaskugeln heraus die (politische) Zukunft vorhergesehen.
Dabei wäre es - wieder einmal - recht einfach: Die Republik hat sich ein solches politisches System, das sich offensichtlich, wenn auch dankenswerter Weise nur im übertragenen Sinn, die US-amerikanische Filmkomödie "Die Ehre der Prizzis" zum Vorbild nimmt, nicht verdient.
Interativ, gebetsmühlenartig wird das Mantra von Neuwahlen, einer Konzentrationsregierung, einer Koalition der Oppositionsparteien samt den "Grünen", einer nochmaligen "Expertenregierung" (Bierlein II.), das "Kanzlerin statt Kanzler" hinauf- und hinunterdekliniert.
Die Situation sei spannend, ein Krimi, ein Koalitionskrieg, Österreich im Krisenmodus, der Kanzler handlungsunfähig, Ibiza 2.0, es gelte die Unschuldsvermutung, hört man alle paar Minuten aus den medialen Newsrooms der Nation, stakkatoartige "breaking news", "Live-Ticker", Sondersendungen, BP Van der Bellen als Gastgeber der Parteiobfrauen und -männer, "Kurz will bleiben", "Kurz muss weg", "Mega" - Demo vor dem Amt des Kanzlers, Interviews, Pressekonferenzen ...
Hinter den Kulissen der medial inszenierten, letztklassigen Show, samt daran teilnehmenden Strohpuppen und Vogelscheuchen, tummeln sich aber (hoffentlich) längst diejenigen, die von sich aus noch in der Lage sind, die relativ klare Situation zu analysieren - mit Vernunft und Ebenmaß.
Dass die türkise Yuppie-Truppe bei der Auswahl ihrer Mittel, ihrem selbst verschriebenen "Neustart" nicht zimperlich war und ist, weiß das ganze Land seit Jahren. Dasselbe gilt für den Stil, die Argumentationslinien und alle sonstigen türkisen Nebengeräusche.
Auf der anderen, oppositionellen, Seite ist ebenso nichts Unerwartetes zu erwarten: Kurz muss weg - immerhin gewinnt er Wahlen, führt in der die "Hitparade" des nationalen Wahlergebnisses noch immer mit großem Abstand.
Was aber sind nun, realistisch betrachtet, mögliche Szenarien?
Dass der Nationalrat Kanzler Kurz am Dienstag nächster Woche mehrheitlich das Vertrauen versagt, scheint so gut wie sicher.
Sollte daher Kanzler Kurz seines Amtes enthoben werden, wäre damit vermutlich auch der türkise Anteil der Bundesregierung Geschichte; die Haltung der entsprechenden Personen ist ja längst dokumentiert und evident.
Die "grünen" Regierungsmitglieder blieben im Amt, wären aber (nicht nur mangels parlamentarischer Mehrheit) vermutlich nicht mehr handlungsfähig. Der Nationalrat könnte aufgelöst werden, Neuwahlen stünden vor der Türe.
Grüne, SPÖ und NEOS bilden - mit Duldung der FPÖ - eine Art "Übergangsregierung" - unwahrscheinlich.
Grüne, SPÖ, FPÖ, NEOS bilden eine "Übergangsregierung" - noch unwahrscheinlicher.
Kurz tritt freiwillig zurück, jemand anderer übernimmt seine Agenden - noch viel unwahrscheinlicher. Die kolportierten Kandidaten/innen (Köstinger, Edtstadler, Haslauer & Co) sind keine echten Alternativen. Haslauer wird sich das, trotz unbestrittener Fähigkeiten, nicht antun, K. & E. dazu nicht einmal ansatzweise in der Lage - wiewohl ... selbst Strohpuppenkanzler können en vogue sein ... Charme hätte solch eine Entscheidung allemal, so oder so ... nicht nur die Boulevardpresse hätte ihre liebe Freude mit den beiden ...
Wenn die momentane Koalition nicht im Amt bleiben sollte, sind Neuwahlen die einzige Alternative - alle anderen Szenarien sind nahezu ausgeschlossen. Dann würden die Karten neu gemischt, wäre der Wähler (wieder einmal) an der Reihe. Im besten Fall, das bleibt die vage Hoffnung, dürfen wir uns dann auf eine Regierung freuen, in der die Farbe türkis, das damit verbundene System, nicht mehr aufscheint.
Die ÖVP sollte sich währenddessen darauf besinnen, für welche Werte sie dereinst gestanden ist, mit welchem Gedankengut sie zu einer staatstragenden Institution aufgestiegen ist, womit sie erfolgreich und für einen großen Teil der Bevölkerung auch tatsächlich wählbar war und, das sollte nicht vergessen werden: Mit welchen Werten, Haltungen und vor allem mit welchen Menschen sie sich ihre Verdienste um die Republik Österreich tatsächlich erarbeitet hat. Von einer solchen Haltung und solchen Werten sind Kurz & Co so weit entfernt, dass einem schlecht werden könnte.
Chr. Brugger
08/10/2021