Jahresrückblick 2.0
Wenn man sich uneigennützig und selbstlos über Monate und Jahre hindurch in den Dienst einer guten, wenn nicht der besten, Sache stellt, erwirbt man zwangsläufig (also unabhängig davon, ob man will oder nicht) gleichsam einen Rechtsanspruch auf eine standesgemäße Funktion, einen Job, der den vorhandenen Ansprüchen und Talenten gerecht wird.
Dann heißt es irgendwann, warum denn noch länger Wertvolles, vor allem Talent, vergeuden, wenn jemand doch für höhere Aufgaben prädestiniert ist.
Bild: Aus dem Evangelium nach Matthäus ...
Der Evangelist Matthäus, davon kann man ausgehen, wird sich etwas dabei gedacht haben, als er in seinem Evangelium davon sprach, dass man das Heilige nicht den Hunden geben möge und Perlen nicht den Säuen vorwerfen solle.
Im Lichte dieses katholischen Grundsatzes, vor dem Hintergrund einer christlichen Glaubensbotschaft also, steht es speziell einer christlich-sozialen Partei ganz gut zu Gesicht, dem Ansinnen eines - transformiert ins aktuelle Jahrhundert - Social-Media-Predigers zu entsprechen.
Dieser christlich-logischen Entwicklung ist "die Neue Volkspartei" bzw. die "Volkspartei Familie." gefolgt, als es wieder einmal an der Zeit war, einem Hochkaräter aus ihrem Familienverbund einen Platz zuzuweisen, der seinen übernatürlichen Anlagen entspricht.
Diese Gnade der (viel zu) späten Vernunft ist Thomas Schmidt gewahr geworden, als er 2019 zum alleinigen Vorstand der Österreichischen Beteiligungs AG (ÖBAG) bestellt wurde.
Quelle: https://kontrast.at/was-macht-thomas-schmid/
Jahrelang musste sich Schmidt als parlamentarischer Mitarbeiter, Pressereferent, Büroleiter, Kabinettschef im Finanzministerium und als Generalsekretär der "Neuen Volkspartei" unter Beweis stellen, sozusagen sich selbst als Rohdiamant so lang schleifen (lassen), bis er den hehren, um nicht zu sagen edlen, Ansprüchen der Parteigranden gerecht werden konnte, um für Höheres berufen zu erscheinen.
Aus einem hoch komplexen, wie professionell abgewickelten Bewerbungsprozess für den Vorstandsposten der ÖBAG ging Schmidt, vollkommen unumstritten, als Bester unter den Hervorragenden hervor; vorgelagert war dieser "Krönung", das muss ausdrücklich betont werden, ein parteipolitisch völlig unbeeinflusstes Procedere im internationalen Kontext.
Wenn es jemand von Kirchberg in Tirol, einer 5.200 Seelengemeinde im Brixental, mitten in den Kitzbüheler Alpen gelegen, an die Spitze des bedeutendsten Staatsunternehmens schafft, muss er zwangsläufig etwas "auf dem Kasten" haben.
Keine zwei Jahre nach seiner Bestellung zum Vorstandschef der ÖBAG wurde Schmid mit fadenscheinigen Argumenten zum Rücktritt gezwungen; insofern hat ihn dasselbe Schicksal ereilt als seinen Mäzen Sebastian K. Für die Drecksarbeit waren beide gut genug und sich selbst für nichts zu schade; als es darum ging, die Lorbeeren zu ernten, wollte man von beiden nichts mehr wissen.
Da Schmid dabei um mehr als ein Jahrzehnt älter ist als sein ebenso missverstandener Förderer, erinnert mich deren Schicksal seit geraumer Zeit an die Szene aus einem meiner Lieblingsbücher, "Der erste Mensch" von Albert Camus. "Er blickte nach oben. An dem blasseren Himmel zogen langsam weiße und graue Wölkchen, und vom Himmel fiel abwechselnd zartes, dann dunkleres Licht. Um ihn herum auf dem weitläufigen Todesacker herrschte Stille. Nur von der Stadt her drang dumpfes Tosen über die Mauern. Manchmal ging eine schwarze Gestalt zwischen den fernen Gräbern entlang. (...) Plötzlich überfiel ihn ein Gedanke, der ihn bis ins Mark erschütterte. Er war vierzig Jahre alt. Der unter dieser Steinplatte begrabene Mann, der sein Vater gewesen war, war jünger als er".
Nun mag das für den unreflektierten Leser pathetisch klingen, für mich hingegen steigt aus diesem Bild ein Qualm aus Wut und Zorn empor, den ich nur schwer ertrage, der mein Gemüt belastet. Diese Szenerie verarbeitend stelle ich mir anhaltend die Frage, wie es sein könne, dass zwei führende Vertreter einer neuen Parteipolitikergeneration, gewiss und zugegeben mit revolutionärem Gedankengut ausgestattet, im Nachhinein dermaßen verunglimpft werden. Das von den beiden skizzierte, strategisch wohldurchdachte, Konzept einer staatstheoretisch interessanten Neuausrichtung des in die Jahre gekommenen heimischen Demokratieverständnisses, hat zumindest mir verdeutlicht, dass man Parteipolitik auch anders, losgelöst von Staubüberlagertem, denken kann.
Vor allem: Das was Kurz und Schmid vor- und vorausgedacht bzw. erkannt haben, findet Seinesgleichen, sogar im internationalen Vergleich, nicht und nirgendwo.
Speziell den Vorgängern und Nachfolgern des Ex-Kanzlers sei daher bereits an dieser Stelle ins Stammbuch geschrieben: Kurz kannte, im Unterschied zu Faymann, Kern, Schallenberg und Nehammer und in Anlehnung an eine Strophe aus einer berühmten Arie in Mozarts Zauberflöte, zumindest in seinen heiligen Hallen die Akrasia nicht - jene Willensschwäche, jenes anhaltende Handeln wider besseres Wissen, das uns, die Gesellschaft, zu vernichten droht.
Man mag Kurz und Schmid vorwerfen, was man will; eines können die beiden aber vollkommen unbestritten für sich in Anspruch nehmen: Sie haben so gehandelt, wie sie es für gut befunden haben. Über den Vorwurf, gegen ihre eigenen Prinzipien gehandelt und verstoßen zu haben, sind beide erhaben.
Über die Sinnhaftigkeit dieses "handeln Müssens" mag man unterschiedlicher Auffassung sein; davon unabhängig ist ihnen die Standhaftigkeit, die das vorbehaltlose davon überzeugt sein von dem, was sie getan haben, betrifft, durchaus hoch anzurechnen.
Wie unterschiedlich im Nachhinein das "türkise System" betrachtet und analysiert werden kann, verdeutlichen die bipolar anmutenden, retrospektiven Betrachtungsweisen.
Denkt man - losgelöst von den genannten Anschauungen - das von Kurz und Schmid angestrebte System konsequent zu Ende, zeigt sich am deeskalierten und komprimierten Endpunkt ein durchaus respektables Bild, mit dem man vorliebnehmen und sich zufriedengeben könnte: Das von der Tagespresse zum "Laufhaus Österreich" hochstilisierte Konstrukt einer internetunterstützen Selbstbedienungsplattform mit erotischem Anstrich.
Volksnahe, niedrigschwellig verfügbare Dienstleistungen zu einem günstigen Preis anzubieten, dürfte vermutlich eines der angestrebten, systemimmanenten Ziele gewesen sein.
Minister/innen wollte man, bezogen auf Vermögende, scheinbar im ursprünglichen Wortsinn verstanden wissen - "Liebesdiener/in" an der Bourgeois" (im Sinne von Karl Marx), befriedigte Wünsche (für Kapitalisten) aller Art.
Solcherart stellt sich das türkise System völlig anders dar, wird allzu verständlich, was Kurz, Schmid & Co gemeint haben, wenn sie von "Huren für die Reichen" gesprochen haben. "Schluss ist jetzt mit dem Blabla, bei uns da hilft die Domina", "Blümel- statt Blümchensex", "im Zweifel lieber lang als kurz" usw. wird man, allem Anschein nach, gemeint haben. Insofern macht auch der Slogan "Kurz muss weg" wieder Sinn, dürfte der Initiator eines Systems wohl zu guter Letzt an seinen eigenen Maßstäben gescheitert sein.
https://www.journal-frankfurt.de/journal_news/Panorama-2/Einblicke-in-eine-andere-Welt-Eine-Tour-durchs-Laufhaus-nur-fuer-Frauen-29935.html
Revolutionäres Ansinnen, das scheint leider eine historische Notwendigkeit zu sein, wird oft erst dann salonfähig, wenn sich dessen geistige Urväter bereits längere Zeit nicht mehr unter den Lebenden befinden bzw. sich zumindest aus der Umgebung befreit haben, deren aktueller Situation sie ihre zukunftsweisenden Ideen verdanken. An der Fähigkeit, aus der Not eine Tugend machen zu können, ist nichts Verwerfliches zu erkennen; Kurz und Schmid haben die Zeichen der Zeit erkannt: Wenn die üblichen Mittel nicht mehr nützen und noch weniger bewegen, ist es hoch an der Zeit und Staatspflicht zugleich, Neuem den Weg zu ebnen - wenn es sein muss, auch einem neuen System der Marke "Laufhaus Österreich". Was spricht dagegen, hoheitliche (Finanz-) Verwaltung in den Strukturen eines Nobelbordells abzubilden, wo es sich auf gemütlichen Plüschsofas, bei kühlen Getränken und minirockartiger Straps-Atmosphäre wesentlich leichter reden lässt als in verstaubten Amtsstuben? Nach ein paar Gläsern Champagner ist man schneller handelseins als anlässlich von nicht enden wollendem Geschwurbel. So spricht auch nichts gegen einen Quickie auf einer mondänen Raststation oder ein französisches Dessert im noblen Ambiente. Lieber einen kurzer GV als einen seitenlangen Bescheid, gegen den dann doch nur berufen wird - eine Win-win-Situation für beide Seiten ist gegenüber einem langwierigen Verfahren bei weitem der Vorzug einzuräumen.
Wenn Camus mit dem Inhalt seines "Der erste Mensch" Recht hat, wird das, was Kurz, Schmid & Co getan haben, dem Volk, der breiten Masse, folglich uns, ohnedies einerlei, alsbald vergessen sein. "Schon die Erinnerung der Armen wird weniger genährt als die der Reichen, sie hat weniger Anhaltspunkte im Raum, denn sie verlassen selten den Ort, an dem sie leben, auch weniger Anhaltspunkte in der Zeit seines eintönigen grauen Lebens".
Dann nähert sich Camus dem furiosen Finale: "Gewiss, es gibt die Erinnerung des Herzens, von der es heißt, sie sei die sicherste, aber das Herz nutzt sich in Not und Arbeit ab, es vergisst unter der Last der Anstrengungen schneller", um eine Zeile später den ultimativen Höhepunkt zu erreichen: "Die verlorene Zeit wird nur bei den Reichen wiedergefunden. Bei den Armen verzeichnet sie nur die undeutlichen Spuren des Weges zum Tode. Außerdem darf man sich, um es auszuhalten, nicht allzu viel erinnern, man muss sich ganz dicht an die Tage halten, Stunde auf Stunde (...)".
Insofern sind Kurz, Blümel, Schmid & Co völlig umsonst "freiwillig" zurückgetreten.
Chr. Brugger
26.12.2021