Im Niemandsland der Idylle
Selbst wenn jemand wollte, würde er nicht auf den Gedanken verfallen, den heurigen Urlaub an einem Ort zu verbringen, der jedenfalls nur über "Umwege" erreichbar ist, wo feudale Herbergen ebenso unbekannt sind wie "Nightlife" oder sonstiger touristischer "Schnickschnack".
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Mandraki_(Nisyros)#/media/Datei:Mandraki_20-jun-2013_03.jpg
Karg sind Landschaft und Infrastruktur, asketisch das Leben der überalterten Bevölkerung; die Fertilitätsrate ist eine der niedrigsten in ganz Europa, selbst ein "Programm zur Bekämpfung der niedrigen Geburtenrate" beschert dem Gebiet am südöstlichsten Rand unseres Kontinents kaum Nachwuchs; Arbeitsplätze sind ebenso rar wie sonstige Perspektiven, Argumente zu bleiben, sein Leben hier zu verbringen, folglich enden wollend.
Quelle: https://www.nisyros.de
Wer sich, so wie ich, dort im Frühjahr aufhält, hat beinahe alles für sich allein: Strände, Straßen, Kapellen, Tavernen; geht man frühmorgens durch die Gassen von Mandraki, dem Hauptort der Insel, trifft man dort lediglich eine Handvoll Menschen, denen Geschäftigkeit fremd, ein Espresso im Kafenio hingegen viel Zeit wert ist; die Temperaturen sind hier bereits Anfang April angenehm, man genießt die wärmende Sonne, die Gespräche mit den "Insulanern", die sanfte Musik im Hintergrund, beobachtet Kinder am Weg zum Kindergarten, Fischer, wie sie ihren nächtlichen Fang zu Geld machen, dabei mit ihren Abnehmern feilschen und Vögel darauf warten, ihren Anteil zu erhalten.
Nähert sich vom benachbarten Kos die erste Fähre, nimmt der Tag zum ersten Mal etwas Fahrt auf; Metzger, Bäcker und Supermarktmitarbeiter warten auf frische Waren, die einzige Tankstelle auf der Insel will mit Treibstoff versorgt, Zisternen mit frischem Wasser aufgefüllt werden.
Dazu kommen einige Lastwägen mit Baumaterial, Tagestouristen sowie ein paar Tageszeitungen, denen vor allem die älteren Bewohner mehr Aufmerksamkeit widmen als frischem Obst, Fleisch und Gemüse, um das sich hier ausschließlich Frauen kümmern.
Nach rund 1 ½ Stunden ist die erste Aufregung wieder bummelnder Ruhe gewichen, die nur durch laustarkes Politisieren unterbrochen wird, eine der Lieblingsbeschäftigungen aller Griechen; von der Fähre sind nur noch Spuren im tiefblauen Wasser erkennbar.
Quelle: https://www.info-kos.de/nisyros-nikia/
Erst gegen Mittag hin wir wahrnehmbar, dass es in Mandraki auch noch so etwas gibt, das man bei uns als Arbeit bezeichnen würde; Christofis Koroneos, der Bürgermeister, gesellt sich zu unserer "Runde", berichtet aus seiner Amtsstube, den Bemühungen der Regierung im fernen Athen, Nisyros zumindest zu mehr Autonomie was die Energie, insbesondere Strom betrifft, zu verhelfen; das bedinge aber u.a., dass auf der Insel Windkrafträder aufgestellt würden, gegen die sich die Einheimischen seit Jahren erfolgreich zur Wehr setzten. Dem außerordentlichen Universitätsprofessor für erneuerbare Energien und Energiemanagement an der "University of Western Macedonia in Griechenland" sei es zwar ein großes Anliegen, für dieses Thema "Stimmung" zu machen aber nicht um jeden Preis und vor allem nicht gegen den Widerstand der verbliebenen Bevölkerung.
Was die Nisyrer am meisten stört und erregt ist die Tatsache, dass auf zwei der bedeutsamsten Touristenhotspots Griechenlands (Mykonos & Santorin) Windkraftanlagen kein Thema sind, hingegen auf entlegenen, nahezu unbesiedelten oder vermeintlich "unbekannten" Inseln Windräder "auf Gedeih und Verderb" errichtet werden sollen; beispielsweise 73 solcher "Ungetüme" würden, geht es nach der zuständigen Energiebehörde, auf einem unberührten Bergrücken Amorgos´ Platz finden, wo es vor rund 50 Jahren überhaupt noch keinen Strom gegeben hätte.
Quelle: https://greece-moments.com/nisyros-highlights/
Die leidige Diskussion um das Thema Energie wird
jäh unterbrochen als sich eine stattliche Yacht dem Hafen nähert; immer wieder
kämen "Neureiche" um auf der Insel Land kaufen und
darauf Villen errichten zu wollen; zahlreiche Größen aus Film, Wirtschaft &
Sport wollten hier schon sesshaft werden meint Yannis, ein Olivenbauer im
Ausgedinge; keinen Quadratzentimeter hätte man ihnen verkauft, sei der Preis
auch noch so hoch und verlockend gewesen, sagt er stolz.
Als der Neuankömmling samt adrettem Anhang im Schlepptau die Yacht verlässt, ist die Taverne am Hafen längst menschenleer, sind die meisten Fensterbalken der Häuser geschlossen; es hat den Anschein, als hätte sich selbst der Wirt zu einem Schläfchen zurückgezogen; nicht umsonst stehen also eine volle Flasche Retsina, ein frisches Glas und ein entleerter Aschenbecher vor mir auf dem Tisch ...
Quelle: https://www.nisyros.de/geografie-nisyros/mandraki-nisyros.html
... der Gast hat schneller verstanden als ich das erwartet hätte; lange war ich dennoch nicht allein ... Wirt und Insulaner kamen zurück, spielten Backgammon, mit den Perlen ihrer Kombolois, tranken Ouzo mit Wasser und erzählten sich Geschichten aus vergangenen Tagen; gegen Abend hin waren auch ein paar ältere Frauen zu sehen, einige Touristen, die auf die nächste Fähre warteten und damit beschäftigt waren, Bilder auf ihren Handys anzusehen; eine Stunde später waren Fähre und Ausflügler weg, kehrte abendliche Ruhe ein, wurde gegessen, gesungen und getanzt; es war längst nach Mitternacht, als wir uns alle endgültig zur Ruhe begaben; müde, zufrieden, glücklich ...
Weitere, ebenso schöne Tage folgten, wir genießen, alle zusammen, den stillen Rhythmus des Beobachtens, Redens, Essens, das Nichtstun oder eben das angenehme Gefühl, nichts tun zu müssen, das unaufgeregte "auf sich zukommen lassen können", das Fehlen allen Zwangs und jeder Verpflichtung, das einfache Sein an sich ... so wurde es beinahe Mai, ehe ich die Insel verlassen konnte; zu sehr hatte sie mich mit all ihrem Kargen beeindruckt, so vertraut waren mir die Einwohner geworden und so sehr konnte ich das erleben und spüren, was es hier, in Österreich, längst nicht mehr gibt ... endlose Stille ...
Chr. Brugger
18/05/2022