Ich bin ein Idiot

06.11.2021

Es tut mir aufrichtig leid, wenn ich in den letzten Wochen und Monaten Politikern ganz unterschiedlicher Fraktionen zu nahegetreten bin, sie teilweise in einem eher bedenklichen Licht erscheinen habe lassen. Ja, es tut mir aufrichtig leid, ich bin in mich gegangen, habe nachgedacht, mir überlegt, wer ich denn sei, mich polemisierend gegen die politische Elite dieses Landes wenden zu müssen, gleichsam zwanghaft deren Fehlverhalten, Pannen, Unzulänglichkeiten usw. anzuprangern. Meine, teilweise durchaus grenzwertigen, Aversionen gegen alles, was mit politischen Entscheidungen, Aussagen, zukunftsweisenden Ideen in mittel- oder unmittelbarem Zusammenhang zu stehen schien.

Dies gilt, das möchte ich nicht verschweigen, vor allem für Sebastian Kurz, unseren ehemaligen Bundeskanzler, den ich bisweilen viel zu streng beurteilt, nicht verstanden habe, warum er das Eine oder das Andere gesagt, getan, oder eben nicht gesagt oder nicht getan hat.

Ich bin, nach reiflicher bzw. nächtlicher Überlegung, zur Einsicht gelangt, dass nicht alle anderen das sind, wofür ich sie immer gehalten habe; nicht jeder einzelne von ihnen ist es, sondern ich selbst: Ein Idiot.

Dieser Entscheidungsprozess, hin zur Selbsterkenntnis, war weder angenehm noch einfach; so, wie es mir jetzt, wo ich das schreibe, nicht leicht fällt, bei jeder Tastenberührung meines Computers zu wissen, was ich von mir preisgebe, waren die letzten Tage nur noch dadurch geprägt, mich gegen das immer stärker werdende Gefühl zur Wehr zu setzen, dass es keineswegs die anderen, vornehmlich Politiker, sein können, die vollkommen orientierungslos durch das Land laufen, Blödsinn von sich geben, den Anschein erwecken, keine Ahnung zu haben. Das Andenken gegen die widerstreitenden Gedanken wurde mehr und mehr zur Qual, bis ich, am Ende des Denkprozesses angelangt, heute am frühen Morgen im Bett, wo mich gleichsam die Einsicht, wenn auch in Gestalt einer hübschen Endzwanzigerin mit Brille, wachküsste usw. und ich (auf und unter ihr) wusste: Der Idiot bin ich; weder sie (die mich wachküsste usw.) noch andere. Meine Gedanken waren, sie wird mir das womöglich verzeihen, nicht bei ihr, sondern bereits ganz woanders.

Etwas später als üblich rieb ich mir die Augen, genoss friedlich die erste Zigarette, drei Espressos, dachte über den anstehenden Tag nach, das, was ich heute tun wolle (sie wollte erst am späteren Nachmittag wieder erscheinen).

So entscheid ich mich dazu, öffentlich darüber zu schreiben mit welcher Erkenntnis ich ab nun zu leben hätte.

Diese Entscheidung dürfte eine gute gewesen sein; mit jedem Wort, jedem Satz, fällt es mir leichter, mit meiner neu gewonnen Einsicht, der damit einhergehenden, erhöhten Lebensqualität, umzugehen, zu beginnen, die Selbsterkenntnis als Erlösung zu schätzen. Ich bin ein Idiot - und das ist gut so.

(Sokrates ist der 3. von links in der hinteren Reihe)

Irgendwie, darauf bin ich besonders stolz, erinnert mich mein eigener Erkenntnisprozess an die Worte des weisen Sokrates, der vor langer Zeit gesagt haben soll, dass er zumindest wisse, nicht zu wissen.

Ich glaube zwar, etwas zu wissen, weiß aber seit heute, dass ich trotz vermeintlichen Wissens ein Idiot bin.

Nun sehe ich persönlich diese Tatsache, was mich nicht minder verwundert als die Erkenntnis selbst, gleichsam mit stoischer Ruhe. Dass rührt vermutlich daher, dass ich den Begriff "Idiot" in Sinne der ursprünglichen, altgriechischen Bedeutung deute und offenbar verinnerlicht habe. Ein Idiot ist demnach, zumindest für mich, jemand, der sich aus allen öffentlich-politischen Angelegenheiten heraushält und keine Ämter in diesem Bereich wahrnimmt, eine Privatperson also, wenn man so will. Jeder, der das für sich in Anspruch nehmen kann (kein Amt im öffentlich-politischen Refugium), ist für mich ein Idiot bzw. Co-Idiot.

Der Vorteil dabei ist, dass man als Idiot dieselben Rechte und Pflichten hat wie diejenigen, die der anderen Spezies angehören. "Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrathes" bin ich allen anderen Staatsbürgern gleichgestellt, unterliege, im Unterschied zu den fraktionszwangsunterliegenden Abgeordneten "beider Häuser", keinem "Unterthänigkeits- und Hörigkeitsverband, kann, ebenfalls im Unterschied zu "Parteigängern" meine Meinung frei äußern, kann glauben und denken was ich will, mich mit anderen versammeln oder vereinen (so wie heute am Morgen, wenn auch, nach meinem Verständnis, mit keiner Idiotin) und jederzeit auswandern, da ich meiner Wehrpflicht vollumfänglich nachgekommen bin.

Daher würde ich auch jedem empfehlen, im "Staatsgrundgesetz vom 21.12.1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder" nachzulesen; mir hat es jedenfalls wieder einmal Freude bereitet; meine Lieblingsabsätze sind übrigens der zwölfte und der achte (genau in dieser Reihenfolge).

Art. 12 ermöglicht es mir, mit Hilfe des besonderen Gesetzes über Vereine, mich mit einer oder mehreren Personen auf Dauer zu vereinigen und das nur für einen ganz bestimmten, gemeinsamen, ideellen Zweck - und das, als wäre es nicht bereits genug, auch noch freiwillig. Unter ideell versteht der Souverän - Gott sei Dank - nur "nicht auf finanziellen Gewinn ausgerichtet"; jeder andere Gewinn ist sohin stets zulässig ... unabhängig davon, worin er bestehen soll.

Ach ja: Mit dem "Achter" kann ich unliebsame, beispielsweise auf Lustgewinn gebürstete, Blondinen (mit oder ohne Brille) vor der Wohnungstüre waren lassen, bis sie vermuten, ich sei nicht zu Hause oder anderweitig ideell beschäftigt. Was unsere Rechtsordnung nicht so alles zu bieten hat ...

... wenn man, so wie ich, eingesehen hat, dass man (von Geburt) an eine freie Privatperson sein darf, fällt einem vieles leichter, geht manches fast spielerisch von der Hand; ich sehe seitdem ein, dass andere dieselben Rechte habe, beispielsweise ihre Meinung durch Worte, Schriften, Druck oder bildliche Darstellung frei äußern zu dürfen. So nehme ich es dem einen oder der anderen Politiker/in nicht mehr übel, wenn in aller Öffentlichkeit behauptet wird, die Pandemie sei für alle (gegen Covid-19) Geimpften vorbei; Kismet oder irren ist menschlich (auch wenn das Bestehen darauf teuflisch sein kann). Vergeben und vergessen, Basti.

Oder Fr. Köstinger, die am 28.09. dieses Jahres vorsichtigen Seilbahnunternehmern oder Liftbetreibern "absolut davon abriet", noch länger 2G zu fordern, um am 05.11. desselben Jahres hinauszuposaunen, dass genau diejenigen, denen sie eine Absage erteilt hatte, nunmehr strenge und konsequente Maßnahmen einfordern würden - schon vergessen, Lisi? Macht aber nichts, man muss sich nicht mehr an alles erinnern, auch vergessen ist nur allzu menschlich.

Mag. Schallenberg kann, ebenso wie Dr. Mückstein oder Hr. Platter, wie im Übrigen alle anderen auch, im Sinne des Art. 14 glauben, was jede Einzelne von ihnen will. Kanzler Schallenberg glaubt, in Anlehnung an Papst Franziskus, die Impfung sei ein "wunderbarer Akt der Nächstenliebe", Mückstein, in Anlehnung an Schallenberg, dass "jeder Desinfektionsspender ein Ort der Nächstenliebe" wäre und Platter, dass der Vollzug des Impfaktes einer moralische Verpflichtung gleichkäme. Auch der bundesdeutsche Ethikrat sieht in der Impfung eine moralische Verpflichtung, ein Gebot der Nächstenliebe.

Alles gut und richtig, alles bestens.

Mir sind, aus dem Reigen der genannten Rechte und Freiheiten, wie schon erwähnt, 12 vor 8 wichtig; da es soeben geläutet hat, muss ich einerseits meine Schreiberei beenden, andererseits entscheiden, ob ich die Freiheit von 12 in Anspruch nehme oder mit 8 auf das Klingeln antworte - mal sehen. Spätestens am Abend wird es wieder läuten; dann weiß ich, welche der beiden Freiheiten ich in Anspruch nehme. Wer will schon morgens ungeküsst wach werden und sich, seiner Freiheit eingedenk, derselben nicht bedienen, auch wenn sie blond und bereit ist, selbst mit Brille das zu tun, was ihr im Sinne des Art. 4 zusteht: Freizügig zu sein.

Genießen wir also unsere Freiheiten und jammern nicht, auf höchstem Niveau bzw. auf freizügigem Nebeneinem, über das, was uns ab Montag erwartet. Was sind schon, vom Stufenbau unserer Rechtsordnung aus betrachtet, fünfklassige Verordnungen gegen feudale, im Verfassungsrang befindliche Grundrechte? Die einen werden bald aufgehoben und damit Geschichte sein, während die anderen seit mehr als 150 Jahren Bestand haben. Die Formel für das Glücklichsein, wenn es sein soll die traute Zweisamkeit, darf daher für alle lauten: G12 - G8 oder umgekehrt und jedenfalls nicht G2 - G3 oder G3 - G2 - G1. Und damit G-Punkt.

Es läutet schon wieder - vielleicht ist es auch nur die hübsche Nachbarin, die um zwei rohe Eier bittet; allenfalls will sie mir auch nur ihre Meinung mitteilen, sich mit mir zuerst versammeln, dann vereinen um abschließend von ihrem eigenen Hausrecht Gebrauch machen zu wollen. Nein sagen kann ich ja, wenn es sein muss, immer noch, obwohl ...

Oder ist es gar die schlanke, langbeinige Frau von der Post mit den strahlend blauen Augen, die routinemäßig immer zwei Mal klingelt?

Nachzusehen lohnt sich also allemal; auch oder gerade in der Pandemie.

Chr. Brugger

06.11.2021