Es gilt die Vermutung der Unschuld

17.10.2021

Als eines der am meisten strapazierten Worte der letzten Tage, Wochen und Monate hat es die "Unschuldsvermutung" nicht nur in die Schlagzeilen, sondern wohl auch an die Spitze des Rankings zur Wahl in der Kategorie "Wort des Jahres" geschafft.

Quelle: https://zackzack.at/2020/05/22/kurz-umfragewerte-im-sturzflug-standard-umfrage-sieht-kanzler-auf-historischem-tiefstand/

Was man, einer oder eine nun vermutet ist das eine; das andere ist aber, dass die Unschuld bzw. die Vermutung derselben, in der momentane Schräglage der politischen Situation, ausschließlich "strafrechtlich" konnotiert wird - und das völlig zu Recht, gehört doch die strafrechtliche Vermutung der Unschuld zu den Grundsätzen des Strafverfahrens, der Strafprozessordnung an sich. Insofern gilt i.S.d. Bestimmung des § 8 der Strafprozessordnung 1975 Folgendes: "Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig".

Zweifelsfrei und ohne Einschränkung - auch für Politiker, Bundeskanzler, Bundesminister und alle sonstigen Amtsträger.

Das momentane Problem der einen (derjenigen, die sich anhaltend darauf berufen bzw. derjenigen, die sie speziell für andere in Anspruch nehmen wollen) ist, dass die anderen (diejenigen, die davon nichts oder nur wenig wissen wollen) sich mit gutem oder eben demselben Recht darauf berufen können, dass Unschuld nicht gleich Unschuld bedeuten muss. Unschuld ist nicht ein exklusiver Begriff für das "strafrechtlich Relevante"; nein, unter Unschuld kann auch etwas ganz anderes verstanden werden, gänzlich anderes gemeint sein. Blättert man beispielsweise im Rechtschreibwörterbuch der deutschen Sprache, gemeinhin Duden genannt, dann erhellt, dass Unschuld u.a. auch "Ahnungslosigkeit", "Arglosigkeit", "Naivität", "Unschuldigsein", "Reinheit", "Unberührtheit", "Jungfräulichkeit", "Anständigkeit", "fehlende (Mit) -verantwortung" bedeuten kann.

Für all diese (und auch andere) "Formen" bzw. Begriffsbestimmungen und Definitionen der Unschuld gilt § 8 der Strafprozessordnung allerdings, zumindest bislang, nicht.

So fiele es beispielsweise schwer, für jeden Menschen vermuten zu können, er sei bis zum Beweis des Gegenteils jungfräulich oder unberührt. Speziell für Eltern würde das wohl kaum jemand ernsthaft, ob für sich oder andere ist einerlei, in Anspruch nehmen.

Dasselbe gilt naturgemäß auch für die Worte "Ahnungslosigkeit", "Naivität" oder "Anständigkeit". Möglicherweise würde den einen oder anderen die Inanspruchnahme, das sich Zurückziehen auf die "Vermutung der Ahnungslosigkeit", sogar komisch vorkommen, wenn dieses "Recht" von anderen eingeforderte würde, ihn dadurch allenfalls sogar noch etwas dümmer erscheinen lassen.

Kaum jemand würde auch behaupten, stolz darauf zu sein, dass für ihn die Vermutung der Ahnungslosigkeit gilt, solange er nicht dazu in der Lage oder willens ist, unter Beweis zu stellen, dass er das eben gerade nicht sei.

Da es aber auch kein Recht gibt, für "anständig" gehalten zu werden, kann man diejenigen, die dieses (vermeintliche) "Recht", noch dazu mit guten Gründen, nicht respektieren, kaum in einem schrägen Licht betrachten, verächtlichen Ansinnens zeihen.

Genau mit dieser Situation beschäftigt sich mittlerweile nicht nur Österreich, sondern auch das Ausland.

Nicht umsonst ist selbst in ausländischen Medien, denen man ein hohes Maß an Seriosität nicht a priori oder apodiktisch absprechen kann, u.a. im Zusammenhang mit Sebastian Kurz und den Seinen, von einem "Menschen, der keine Moral hat und dem Werte nichts bedeuten", einem "beschämenden Selbstverständnis", einem "Illusionskünstler", dem "abstoßenden Sittenbild einer Clique, die in ihrem unbedingten Machwillen sogar einen Feldzug gegen die eigene Partei führte" und so weiter und so fort, die Rede.

Quelle: Foto: AFP/Klamar

Dass solcherlei Berichterstattung der innerstaatlichen Reputation, dem Ansehen Österreichs, eher schadet als nützt, liegt auf der Hand.

"Ösi-Affäre", "Kurz mal weg", "Regierungskrise", "wenn es um seine Karriere ging, kannte Kurz keine Skrupel" usw. nähren nachhaltig die These, Österreich könne man eine Bananenrepublik nennen, in der Korruption und Bestechlichkeit vorherrschen, der Rechtssaat nicht mehr funktioniert, politisch-moralische Verhältnisse von Ineffizienz und Instabilität geprägt wären.

Dass dem leider so zu sein scheint, ist ob dessen, was wir in den letzten Tagen und Wochen zur Kenntnis nehmen durften, relativ klar: In den inländischen Zentren der Macht sitzen offensichtlich überwiegend Menschen mit zweifelhaftem Charakter, einer krankhaft anmutenden Psyche, amoralische Personen, die sich äußerst fragwürdiger, wenn nicht krimineller, Methoden bedienen bzw. bedient haben dürften. Frei nach Kurz: Koste es, was es wolle; man bzw. Kurz & Co nahmen billigend in Kauf, dass damit auch der letzte Rest, der ohnedies nur mehr spärlich vorhandenen Glaubwürdigkeit, die Donau hinab geschwemmt wurde.

Die strafrechtliche Unschuldsvermutung gilt selbstverständlich auch für einen wie Sebastian Kurz; was für diesen Menschen aber nicht gilt ist die Anständigkeitsvermutung, die Naivitätsvermutung oder die "fehlende Mitverantwortungsvermutung". Wenn es also um moralische Maßstäbe, das Überschreiten von Grenzen des Anstandes, das Anwenden skrupelloser Methoden, unlauterer Machenschaften, gar um Ethik oder Würde geht, kann weder Kurz noch einer seiner Reservistenprätorianer das Gegenteil dessen in Anspruch nehmen, was ohnedies jedermann sehen kann: Ein systemisches Politkonglomerat, bestehend aus machtsüchtigen, skrupellosen, krankhaft-ehrgeizigen Emporkömmlingen einer verdorbenen Spezies.

Bild: Thomas Couture , Die dekadenten Römer

Die Enttäuschung türkiser Wählerschaft manifestiert sich mittlerweile in diversen Meinungsumfragen, für die selbstverständlich ebenfalls die Unschuldsvermutung nicht gilt. Dieser, u.a. mit "Totalabsturz" titulierten, Bilanz der "neuen ÖVP" entspringt, nicht nur begrifflich, dem denklogischen Rückschluss, dass Kurz & Co den unsinnigen Versuch unternommen haben, ihre (potenziellen) Wähler zu täuschen. Ob diesem Kurz(trug)schluss ein mit Realitätsverlust verbundenes, psychologisch zumindest bedenkliches, Krankheitsbild innewohnt, mögen andere befunden. Es drängt sich leider mehr und mehr der Verdacht auf, dass Kurz, samt Entourage im türkisen Gewande, an etwas leiden könnten, das Experten allenfalls in der Liste der psychischen und Verhaltensstörungen nach ICD-10 in das dortige Kapitel V einordnen würden. So etwas Ähnliches darf man heute in der Printausgabe des Kuriers auf Seite 6 unter dem Titel "Hier herrschte ein hohes Maß an Eigensucht" lesen.

Dort exploriert Reinhard Haller ferndiagnostisch die Psyche der türkisen Protagnisten der veritablen Staats- und Politkrise.

Quintessenz: Auch für fehlendes Unrechtsbewusstsein gilt die Unschuldsvermutung nicht.

Wer den menschlichen Schutzmechanismus der Scham missachtet, gleichsam mit Füßen tritt, darf auch nicht damit rechnen, im Sinne von "in diesen heil´gen Hallen, kennt man die Rache nicht", auf Gnade hoffen zu dürfen.

Quelle: Foto -  screenshot, orf-tvthek

Da spielt es, zum Ende hin, keine allzu große Rolle mehr, ob an Mozart erinnernde Fieberphantasien, pathologische Neigungen, psychische Beeinträchtigungen oder Sonstiges die türkise Machenschaften beflügelt haben; klar und deutlich ist, dass die Farbe türkis weder im politischen Alltag noch in der Gesellschaft an sich etwas verloren hat; Hochmut käme, sprichwörtlich betrachtet, grundsätzlich vor dem Fall; im pervers anmutenden türkisen Gedankengut scheint selbst diese Binsenweisheit nicht länger anwendbar; bei den türkis benebelten Schwarzen genießt eben derselbe, also der Hochmut, selbst nach dem Fall oder Absturz, anhaltend höfische Salonfähigkeit.

Bild: Michelangelo Merisi, Narziss

Anders sind die Äußerungen von Schallenberg, Kohl & anderen Unschuldsvermutungsfetischisten oder -heuchlern nicht erklärbar. Das sei ihnen unbenommen - allein, das Bildnis des Bastian K. ist, in Anlehnung an Oscar Wildes Roman "das Bildnis des Dorian Gray", soeben dabei und auf einem guten Weg, sich selbst zu zerstören. Ohne "kosmetische" Hilfsmittel, gekaufte Propaganda und sonstige "Behelfe" bzw. Ingredienzien ist die amoralische Fratze scheinbar nicht mehr in der Lage, ihr reales Gesicht zu verbergen. Entlarvt wird ihr wahres Bild sichtbar. Angenehm ist der Blick darauf nicht, ernüchtern allemal.

Chr. Brugger

17/10/2021