Eine Sternstunde des Parlamentarismus?
Sängerknaben, Philharmoniker und Politprominenz, soweit das Auge reicht - die Wiedereröffnung des österreichischen Parlaments am Karl Renner-Ring, ein TV-relevanter "Staatsakt" mit Symbolcharakter.

Aus einem um rund 450 Millionen Euro rundumerneuerten Gebäude, in dem National- und Bundesrat, nominell die gesetzgebenden Organe der demokratischen Republik Österreich, ihren Sitz haben, wurde der Bevölkerung am 12.01.2023 in zwei Kanälen des öffentlichen Fernsehens präsentiert, wo sich hierzulande das abspielt, was gemeinhin "Parlamentarismus" genannt wird - folgt man Hans Kelsen, geht es also um die "Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, also demokratisch gewähltes Kollegialorgan, nach dem Mehrheitsprinzip".
Da, wie es in Art. 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) nachzulesen ist, in Österreich das "Recht vom Volk ausgeht" und, im Sinne des in Art. 18 B-VG verankerten Legalitätsprinzips, die "gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden darf", wird deutlich, dass das Volk, zumindest am Papier, das Sagen hätte, sozusagen der alleinige Souverän seines eigenen Staates wäre.
Die "staatliche Willensbildung", das, was der Staat also will, erfolgte verfassungsgemäß durch jene 183 Nationalratsmandatare, die grundsätzlich alle 4 Jahre über "Parteilisten" semidemokratisch dafür gewählt und als "Parlament" bezeichnet werden.
Die Nationalratsabgeordneten repräsentieren sohin das Volk, die politischen Entscheidungen (in Form von Gesetzen) werden (nach dem Mehrheitsprinzip) im Parlament getroffen; diese "Konstruktion" wird gemeinhin ebenfalls "Parlamentarismus" genannt.
Gegen dieses System einer "parlamentarischen Demokratie" gäbe es prinzipiell wenig einzuwenden; eine grundlegende, systemimmanente Schwachstelle ist aber schon dadurch erkennbar, dass Repräsentant des Volkes, Parlamentarier also, nur jemand werden kann, der (im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen und allen Wahlen vorgelagerten Negativselektion) einer wahlwerbenden politischen Partei angehört; alle parteilosen Wähler sind hingegen für das Parlament nicht wählbar und von einem solchen "Amt" oder "Mandat" de facto ausgeschlossen.
Die überwiegende Mehrheit aller wahlberechtigten Österreicher ist, weil sie sich offiziell nicht zu einer politischen Partei bekennen, daher apodiktisch unwählbar.
Wenn sich jemand, so wie ich, weder zu einer politischen Partei bekennt noch mit der Parteiprogrammatik einer wählbaren Partei identifiziert, hat er im Parlament keine "Stimme" und wird dort folglich auch nicht repräsentiert; diesen Zustand bezeichnet man im Volksmund demokratisch; ich habe, als waschechter Demokrat, das zu akzeptieren, was diejenigen, von denen ich nicht vertreten werden möchte, beschlossen und in Gesetzesform gegossen haben.
Nun ist es aber so, dass die vom Parlament beschlossenen Regelungen, überwiegend Gesetze und Verordnungen, von jemandem, im Rahmen von Verwaltung und Gerichtsbarkeit, zu vollziehen sind.
Oberstes Vollzugsorgan der Verwaltung ist in Österreich die Bundesregierung, respektive der Bundeskanzler und die Bundesminister, in Summe die heimische Bundesregierung.
Den Bundeskanzler stellt (nur Ausnahmen bestätigen diese Regel) diejenige Partei, die bei den Nationalratswahlen die meisten Stimmen erhalten hat; der Parteichef der stimmenstärksten Wahlpartei wird Bundeskanzler, sofern er, relativ mehrheitlich, zumindest 92 der 183 Parlamentarier hinter sich weiß.
Kontrolliert wird die Bundesregierung wiederum vom Parlament, auf dessen Mehrheit und Wohlwollen der Bundeskanzler samt seinen Regierungsmitgliedern angewiesen ist; da im Parlament aber eben just diejenigen vertreten sind, auf deren Mehrheit sich der Bundeskanzler (auch dank "Fraktionszwang") verlassen kann, ist es mit der "Kontrollfunktion" nicht allzu weit her; auch hier bestätigt eine einzige Ausnahme die Regel, dass das Parlament die Regierung unkontrolliert arbeiten bzw. dahinfuhrwerken lässt.
Bei der letzten Nationalratswahl hat, geht es nach der Bundeswahlbehörde, die "Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei" die meisten Stimmen (1.789.417) erhalten; auf der Homepage des Innenministeriums heißt der Wahlsieger allerdings fälschlicherweise ÖVP.
Der Grund für diese respektlose wie undemokratische "Umdeutung" liegt auf der Hand; die "Liste Sebastian Kurz" hat sich in Luft aufgelöst; die Nachfolgekanzler Schallenberg & Nehammer hat nie jemand gewählt; auch nicht (weder direkt noch indirekt) jene 1.789.417 Wähler, die sich 2019 für die "List(e) eines Maturanten" entschieden haben.
Dazu kommt, dass die Wahlergebnisse der Nationalratswahlen 2017 und 2019 zumindest unter dubiosen, teilweise noch aufklärungsbedürftigen, Umständen, die eine rechtswidrige Beeinflussung nahelegen, zustande gekommen sind (nachgewiesene Wahlkampfkostenüberschreitung 2017, vermutete Wahlkampfkostenüberschreitung 2019, manipulierte Meinungsumfragen etc.).
Geht man auch noch davon aus, was nicht in Abrede zu stellen ist, dass bei der Nationalratswahl 2019 nur ca. 28% aller Wahlberechtigten für die "Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei" votiert haben, wird - unter Berücksichtigung der vorgenannten Gründe - ersichtlich, auf welch dünnem Legitimitätseis die derzeitige Bundesregierung dahinschlittert; aber immerhin - dank unseres, aus meiner Sicht pervertiert-überkommenen, "Systems" ist sie immer noch im Amt.
Selbst das bzw. diese Situation wäre mangels momentan vorhandener Alternativen möglicherweise hinnehmbar; der wichtigste Punkt meiner kritischen Betrachtung ist hingegen ein völlig anderer: Während in nahezu allen Branchen der Wirtschaft das Fehlen ausreichend qualifizierten Personals beklagt wird und daher 3/4-tel der Betriebe an akutem Fachkräftemangel leiden, ist von diesem offenbar, grassierenden "Phänomen" in der Politik weit und breit nichts zu hören. Viel mehr noch als in der Wirtschaft wird aber auf der politischen Bühne sichtbar, dass vor allem die meisten Spitzenpositionen mit minderwertigem Personal besetzt sind; während beispielsweise kein Inhaber einer Kfz-Werkstätte der Idee verfiele, die diffizilsten Aufgaben einem Mitarbeiter im ersten Lehrjahr anzuvertrauen, ist das im Bereich der staatlichen Verwaltung, insbesondere aber auch im Parlament, "part oft he game" bzw. gehört mittlerweile anscheinend sogar schon, als "Qualitätsmerkmal", zum guten Ton. Es stellt sich nämlich an dieser Stelle die Frage, was denn, außer seiner Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, einen Nationalrat oder Minister dafür qualifiziert, ein solcher zu sein; ein Mehr an Qualität ist, gegenüber dem Mann oder Frau von der Straße, weder gefordert noch nötig und überdies auch gar nicht vorhanden; durch Parteilinien- oder Koalitionszwang verkommt die größte Teil aller nationalen Räte zum willfährigen Stimmvieh, das problemlos und vor allem staatsausgabenschonend auch durch billige Automaten oder Pappnasen ersetzbar wäre; für oder gegen etwas - nicht nach Lust & Laune oder wohldurchdacht sondern so, wie die Partei bzw. der Parteiobmann es befiehlt.
Da mittlerweile nahezu alle Gesetzesinitiativen Ministerien entstammen (sog. "Regierungsvorlagen"), die wiederum von denjenigen geleitet werden, die ihre eigenen Vorlagen nach deren Gesetzwerdung auch zu vollziehen haben, ist es keine allzu große Überraschung bzw. logisch konsequent, dass der parlamentarische Diskurs auf einer letztklassigen Provinzbühne stattfindet, wo Selbstdarstellung & Scheingefechte Regie führen.
Das "hohe Haus"? Nicht einmal L'art pour l'art, obsolet und peinlich; es wird weder sich selbst noch seiner eigenen Bezeichnung gerecht - ob in alten Gemäuern oder sanierten; an der selbstverordneten Irrelevanz vermögen Sanierung & Festakt nichts zu ändern - dafür müssten die "Spielregeln" der Macht geändert werden; eine "Sternstunde" könnte es werden, würde man den Parlamentarismus, um ihm gerecht zu werden, endlich ernst nehmen und nicht laufend mit persönlichem Zweckdenken missbrauchen.
Politische Macht braucht nicht eine scheinbare, vielmehr eine tatsächliche, effektive Kontrolle, die "Logik" bzw. der "Selbstzweck" ihrer Ausübung muss transparent, nachvollziehbar und gegen Korruption in jedweder Form resistent sein; das gilt im speziellen auch für alle parteipolitisch kalkulierten Klüngeleien, mit denen die politischen Parteien das ganze Land durchdrungen haben.
Die gesamte Verwaltung des Staates, der Länder und Gemeinden ist parteipolitisch infiltriert; ohne Parteibuch geht rein gar nichts - und das gilt, bedauerlicherweise, auch für den ach so hoch gelobten Rechtsstaat, die unabhängige Justiz; auch dort werden Spitzenpositionen nicht nach dem Können, sondern nach der Farbe der jeweiligen Parteigesinnung verhandelt.
Solange die "Spielregeln" der Kontrolle sowie des (politischen) Anstands von jenen festgelegt werden, die es zu kontrollieren gilt, sind alle diesbezüglichen "Verwendungen" ebenso wenig wert wie der Parlamentarismus an sich; wenn Parteien, die mutmaßlich durch und durch korrumpiert sind, Maßnahmen gegen ihr eigenes Tun entwickeln wollen, ist das Ergebnis absehbar; allein die Tatsache, dass sie sich mit ihrer eigenen, öffentlich sichtbar gewordenen Unlauterkeit zu beschäftigen haben, lässt Rückschlüsse auf das Ausmaß ihrer Verkommenheit zu.
Die in Diskussion befindliche Demokratie bzw. die allenthalben diagnostizierte Krise derselben wird nicht enden bzw. beendet sein, bis man bereit und in der Lage ist, am völlig dekadenten Machterzeugungskonglomerat Gravierendes zu ändern.
Das wäre, an und für sich, recht einfach, kämen die "Parlamentarier" ihrer eigentlichen Aufgabe, den Willen des Volkes zu repräsentieren, auch tatsächlich nach; prinzipiell wäre es keinem Mandatar verboten, Gesetzesinitiativen aus eigenem Antrieb zu ergreifen, um denjenigen gerecht zu werden, denen er sein Mandant verdankt; diese Vorstellung ist allein schon deshalb absurd, da es den Mandataren dafür an Anstand und Können mangelt; überdies wäre es, im Sinn der Einheit der Rechtsordnung, hoch an der Zeit, den im Bundeskanzleramt angesiedelten Verfassungsdienst von seiner parteipolitischen Pervertierung zu befreien, ihn mit unabhängigen Fachleuten auszustatten, die allesamt den Nachweis zu erbringen haben, keiner politischen Partei anzugehören bzw. nicht von einer solchen beeinflusst zu sein; ein solcher (parteiunabhängiger) Verfassungsdienst verdiente nicht nur seinen Namen, sondern wäre auch viel eher Garant einer auf die Interessen des Volkes bezogenen Legislative; das, was derzeit als "Regierungsvorlage" aus den unterschiedlichsten Ministerien den Weg in das Parlament findet, ist meist nicht einmal das Papier wert, auf dem es geschrieben wurde und vor allem legistisch so schwach, dass es einem übel werden könnte.
Solange die Zeit der Regierungsvorlagen, die ohnedies nur als kleinster gemeinsamen Nenner parteipolitischer Selbstherrlichkeit zu bezeichnen sind und dann von den Parlamentariern "abgenickt" werden, nicht endgültig vorbei ist, können die Nationalräte weiterhin das tun, was sie offenbar am besten können und wofür sie zweifelsfrei "gewählt" wurden und bezahlt werden: Sich gegenseitig auszurichten, wie vertrottelt das jeweilige Vis-à-vis bzw. dessen Meinung ist; was hätten die Wögingers & Hangers sonst auch Besseres zu tun? Nichts und das seit mehr als zwei Jahrzehnten würden die Haubners & Eßls antworten.

Das ist eben gelebter, österreichischer Parlamentarismus, selbst wenn dieses "Treiben" an eine Zeit erinnert, an die sich niemand mehr erinnern will - den März des Jahres 1933, in dem sich der Nationalrat, zumindest wenn es nach dem damaligen Bundeskanzler gegangen wäre, der Nationalrat selbst ausgeschalten hat; vielleicht ist es daher nicht bloß ein Zufall, dass die ÖVP-"Politelite" im niederösterreichischen Texingtal ein Museum unterhält, das just an jenen Faschisten erinnern soll, der damals in Österreich das Sagen hatte.
Von einer "Sternstunde des Parlamentarismus" wird man daher jedenfalls erst dann sprechen können, wenn sich die handelnden Personen dessen auch würdig genug erweisen; davon sind Sobotka & Co aber ebenso weit entfernt, wie Nehammer & seine Entourage; manche meinen ja bereits, diese fatale Konstellation wäre ein idealer Nährboden für das, woran sich hierzulande niemand mehr erinnern will; man kann sich als Bürger dieses Staates nur wünschen, dass die einen sich schlagartig ändern und endlich auf das besinnen, wofür sie von uns bezahlt werden, die anderen hingegen nicht Recht haben; denn sonst werden wir lernen müssen, uns zu erinnern - ob wir wollen oder nicht.
Chr. Brugger
18/01/2023