Die Zeit der Analysten
Zwei Tage nach der sonntäglichen Nationalratswahl dämmert es schön langsam auch denjenigen, die ihre Ziele nicht erreichen konnten; für ÖVP, SPÖ und Grüne gibt es das böse Erwachen; gemeinsam ist es ihnen gelungen, der FPÖ zu einem historischen Wahlsieg zu verhelfen; Nehammer, Babler & Kogler sind zu Kickls Steigbügelhaltern geworden; ohne ihr tatkräftiges Zutun wäre es dem Parteiobmann der FPÖ nie und nimmer gelungen, dermaßen zu reüssieren und sogar die Bestleistung des legendären Jörg Haider zu toppen.
Es wäre die Zeit der Analysen, einer ernsthaften Suche nach der Antwort auf die Frage, wie so etwas geschehen konnte.
Quelle: https://www.deutschland.de/de/topic/wissen/geist-und-wissenschaft/max-weber-pionier-der-soziologie
Österreich wäre aber nicht länger Österreich, würden sich die Verlierer zu einer schonungslosen Aufarbeitung ihrer Pleiten hinreißen lassen; sich selbst einzugestehen, in allerlei Belangen versagt zu haben, ist ihre Sache nicht; folglich wähnten sich bereits am Wahlabend ÖVP, SPÖ & Grüne sogar noch irgendwie als Sieger; sie verwehren sich solcherart zwar kategorisch gegen einen ungeschminkten Blick in den eigenen Spiegel; das wiederum erspart ihnen die ach so schmerzliche Selbstreflexion; frei nach dem Motto "Augen zu und durch" wird zur Tagesordnung übergegangen; alles andere wäre ohnedies nur vergebene Liebesmüh; jetzt gilt es, die FPÖ als Kanzlerpartei zu verhindern – ein gemeinsames Feindbild eint scheinbar alle Verlierer.
In den Tagen nach der Wahl versuchen sich daher ganz andere Personen mit einer Atomisierung des Wahlergebnisses; Medienvertreter, Wissenschaftler und eine Heerschar an ehemaligen Politikern liefern erhellende Beiträge zum Thema der tatsächlichen "Wahlmotive"; warum haben die WählerInnen welcher Partei ihre Stimme anvertraut?
Ob der Erklärungsvielfalt eröffnet sich ein weites Spektrum: Asyl & Migration, Teuerung, die Finanzierung der Ukraine, die hohe Inflation, die enorme Staatsverschuldung, die miserable Bildungspolitik, die steigende Anzahl an Arbeitslosen, das marode Gesundheitssystem, Klima- und Umweltschutz usw.; neben diesen Themen wäre das Wahlergebnis aber jedenfalls zu einem guten Teil auch den diversen Social-Media-Kanälen ("TikTok-Make Your Day", Instagram, "X. Alles, was gerade los ist" etc.) samt ihren unliebsamen Nebenwirkungen ("Fake News", "Hassbotschaften") zu verdanken, auf deren Klaviatur die FPÖ am weitaus besten zu spielen in der Lage wäre.
Aus diesem "Motivkonglomerat" heraus ließe sich also, so die komprimierte Expertenmeinung, der FPÖ-Triumpf bzw. die Stimmenwanderung erklären.
Diese Ansicht teile ich nicht.
Den "gemeinen" WählerInnen dienen mE weder parteiliche Vorstellungen oder Überlegungen als Entscheidungsgrundlage noch emotionale Regungen; vielseitige Partei- oder Wahlprogramme sind für die "normalen" WählerInnen ohne Relevanz; das kollektive Verständnis der WählerInnen hat sich eher darauf verständigt, zwischen "Können" und "Wollen" zu unterscheiden, die Trennlinie zwischen "Anspruch" und "Wirklichkeit" zu erkennen sowie festzustellen, dass die "demagogische Wirkung der Führerpersönlichkeit" vielerorts bei weitem nicht ausreicht, um im Wahlkampf erfolgreich zu sein.
Quelle: https://www.aier.org/article/max-weber-on-politics-as-a-vocation/
Bereits Max Weber wusste daher, dass ein charismatischer Führer mehr sein muss, "als ein enger und eitler Emporkömmling des Augenblicks"; dafür käme Regierungsprogrammen "rein phraseologische Bedeutung" zu, die Verfassung brächte "reine Stellenjägerparteien" hervor, "die ihr sachliches Programm je nach den Chancen des Stimmenfangs abändern"; und zu guter Letzt wünschten die Wahlsieger auch noch an der "Staatskrippe" gefüttert zu werden.
Dieses System der weber´schen "Pfründnerversorgungsanstalt" haben die Wähler längst durchschaut und ernst zu nehmende Charismatiker sind weit und breit nicht ersichtlich; was das Volk sieht und vorgeführt bekommt, ist eine "Dilettantenverwaltung durch Beutepolitiker" samt parteilichen "Beamtenavancements" und Ministern als "Repräsentanten der politischen Machtkonstellation" (…) ohne aber selbst imstande zu sein, den Betrieb technisch zu leiten".
In den Parlamentariern sehen die WählerInnen (im Sinne Webers) nichts anders als "gut diszipliniertes Stimmvieh"; und wenn ein Sebastian Kurz etwas "Positives" geleistet haben soll, dann ist es die ihm zu verdankende kollektive Einsicht, dass er "die Macht lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck" genießen wollte.
"Denn obwohl, oder vielmehr, gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel und Machtstreben daher eine treibende Kraft aller Politik ist, gibt es keine verderblichere Verzerrung der politischen Kraft als das parvenumäßige Bramarbasieren mit Macht und die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht rein als solcher; der "bloße Machtpolitiker (…) mag stark wirken, aber wirkt in der Tat ins Leere und Sinnlose".
All das haben die WählerInnen, wenn auch unbewusst, erkannt und demgemäß handeln sie; sie wissen sich mit dem "Produkt einer höchst dürftigen und oberflächlichen Blasiertheit gegenüber dem Sinn des menschlichen Handelns" nicht länger etwas anzufangen.
Chr. Brugger
01/10/2024