Die Wahrheit ist jedem Menschen zumutbar

21.05.2021

Betrachtet die Ausdrucksweise der "türkis" angehauchten ÖVP-Protagonisten in der österreichischen Bundesregierung etwas näher, fällt zweierlei auf:

Wenn es darum geht, der Bevölkerung Unliebsames, beispielsweise in Form von massiven Einschränkungen in allen sozialen Bereichen (Schule, Sport, Arbeit, Wirtschaft, Reisefreiheit) zur Kenntnis zu bringen, wird Zusammenhalt eingefordert, an die "kollektive Vernunft" appelliert und damit argumentiert, man müsse die Menschen "vor dieser schwerwiegenden Erkrankung schützen". Deshalb, so Kanzler Kurz anlässlich einer parlamentarischen Sondersitzung am 21.12.2020, "werden in Österreich ab 26. Dezember wieder verschärfte Maßnahmen gelten, inklusive Ausgangsbeschränkungen, heruntergefahrenem Handel, Home-Office und Distance-Learning". Das sei, sozusagen, Aufgabe und Pflicht der gewählten Politiker.

Wenn es darum geht, Ungemach unters Volk zu bringen, Grund- und Freiheitsrechte massiv einzuschränken, dann macht die türkise ÖVP das immer nur im Namen des Volkes, legitimiert durch Wahlen demokratischer Prägung, dadurch frei von jeder eigenen Verantwortung.

Gleichzeitig hat Kurz vor den Weihnachtsfeiertragen aber auch davon gesprochen, dass ab dem 18.01.2021 ein sog. "Freitesten" möglich sein werde. "Am Wochenende vor dem 18. Jänner wird ein weiterer Massentest in Österreich stattfinden und es wird die Möglichkeit des Freitestens geben. Das bedeutet: All jene, die bereit sind an diesem Wochenende oder den Tagen davor an dieser Testung teilzunehmen, die haben die Möglichkeit, ab dem 18. Jänner Handel, Kultur, körpernahe Dienstleistungen, Gastronomie, Tourismus wieder zu besuchen. Für alle, die nicht bereits sind, sich testen zu lassen, gelten die Regelungen des Lockdowns bis zum 24. Jänner, also eine Woche länger".

Dass der Lockdown, wie von Kurz versprochen, weder am 18. noch am 24. Jänner - ob getestet oder nicht - beendet, vielmehr über Wochen und Monate hinaus verlängert wurde, ist Tatsache und bittere Realität zugleich.

Man (die türkise ÖVP) hat dann, unter dem Verdikt staats- und gesundheitspolitischer Verantwortung, quasi apodiktisch festgestellt, dass jeder einzelne (von uns) dazu beitragen könne, verpflichtet wäre, müsse, dass sich die Situation verbessere, der Lockdown "zeitnah" beendet werden könne. Kurz hat das Volk sogar darum gebeten, "unsere Strategie zu unterstützen".

Zeitgleich hat man (die türkise ÖVP) in nahezu prophetischer Voraussicht, einen "Sommer wie im vorigen Jahr" vorausgesagt. Damit wurde in der Bevölkerung die fragile Hoffnung auf baldige Besserung - ohne Kenntnis bzw. gesichertem Wissen darüber, wie und wann sich die Gesamtsituation verändert - befeuert, sollten mit äußerst fragwürdigen, positiven, Aussichten, Durchhaltevermögen und Bereitschaft der Bevölkerung "ein letztes Mal" mobilisiert werden. Die Verantwortung für Heil oder Unheil hat man (die türkise ÖVP) solcherart, elegant und unbürokratisch, auf das Volk abgewälzt, wieder einmal, frei von eigener Verantwortung.

Parallel dazu hat die österreichische Bundesregierung "zum Wohl der Österreicherinnen und Österreicher", dem höhnisch "oberste Priorität" zugebilligt wird, im Mittelpunkt steht und zur "Bekämpfung des Virus und zur Unterstützung all jener, die unter dessen Folgen leiden", milliardenschwere bzw. -teure Maßnahmen beschlossen (Corona-Kurzarbeit, Härtefallfonds, Corona-Hilfsfonds, Fixkostenzuschuss, Verlustersatz, Steuerstundungen, Gebührenbefreiungen, Steuersenkungen, Ausfallbonus, Investitionsprämien etc.), die nicht nur den Staatshaushalt völlig "aus dem Ruder" laufen lassen, sondern die Republik Österreich auf Jahrzehnte hinaus, massiv und noch weiter verschulden.

Nun steht, nicht nur ökonomisch betrachtet, vollkommen außer Frage, dass der mit den verhängten bzw. beschlossenen Lockdowns unmittelbar einhergehende, von der Regierung bewusst in Kauf genommene, Schade für Wirtschaft und Bevölkerung auch staatlicherseits, zumindest zu einem Gutteil, wieder "gutgemacht" werden muss.

Diese "Selbstverständlichkeit" wird von den dafür Verantwortlichen (Kurz, Blümel & Co) nunmehr, speziell im Nachhinein und aus sicherer Distanz, als beispielhafte wie seines gleichen suchende, "Erfolgsgeschichte" am "Markt" feilgeboten. Das kauft zwar der türkisen ÖVP niemand, bzw. wenigstens diejenigen, die 1 + 1 zusammenrechnen können, ab. De türkise ÖVP hindert das jedoch nicht daran, diesen Ladenhüter weiterhin, mit selbst beweihräuchernden Worthülsen, anzupreisen. Immer dann, wenn es, aus Sicht der türkisen ÖVP, gilt, etwas Positives zu vermelden, ändert sich die Ausdrucksweise dramatisch. All das Positive reklamiert die türkise ÖVP für sich selbst, wiewohl das Positive in der Bundesregierung Kurz II zu einer Mangelware geworden ist.

Dasselbe gilt für die "Verkündigung" des "Endes des dritten Lockdowns". Von einem gänzlichen Lockdown ist man zwar noch meilenwert entfernt; nach wie vor hat die Bevölkerung mannigfache Restriktionen über sich ergehen zu lassen (Zugangsbeschränkungen, Maskenpflicht, Testpflicht insbesondere für Schüler etc.). Dessen ungeachtet frohlockt die türkise ÖVP, ob der "von ihnen" ermöglichten "Wiedereröffnung" des Landes, der "Auferstehung" des sozialen Lebens. Den 19.05.2021 hat man so zu sagen als neuen "Staatsfeiertrag" auserkoren und heftet sich dessen Installierung auf die eigenen Fahnen. Wir, wir, nur wir, die türkise ÖVP mit dem "Wunderwuzzi"-Kanzler, dem Einzigmöglichen an der Regierungsspitze, haben das alles zustande gebracht - und dafür hat uns das Volk nicht nur dankbar zu sein. Nein, es hat auch die immer noch bestehenden Limitationen jedweder Art (und seien sie noch so skurril) in Kauf zu nehmen, mitzutragen, verfassungs- und rechtswidrige Verordnungen jedenfalls zu befolgen.

Nicht der Disziplin, der Ausdauer, dem "Wohlverhalten" der Bevölkerung sei die "Auferstehung" zu verdanken; "mein Team und ich" haben das ermöglich, "mein Team und ich" haben rund um die Uhr gegen die Pandemie gekämpft; "mein Team und ich" haben die Pandemie besiegt; "mein Team und ich" haben euch mit COVID-19 Paketen beschenkt; "mein Team und ich" sind dafür verantwortlich, dass ihr jetzt im Gasthaus wieder ein Schnitzel essen, ein Bier trinken könnt; "mein Team und ich" sind es, die es euch jetzt ermöglichen, im Kaffeehaus eine Kardinalschnitte zu ordern und einen Espresso zu schlürfen.

Das ist die abgehobene, frivol anmutende, selbst verherrlichende Diktion des türkisen ÖVP-Krisenmanagements mit Kurz als "Machatschek on top".

Die reale Situation, die von der türkisen ÖVP beharrlich wie vehement verleugnet wird, ist aber eine ganz andere. Würde es die türkise ÖVP tatsächlich ehrlich (mit uns) meinen, müsste ihre Ausdrucksweise eine ganz andere sein.

Es gibt ein Buch von Ingeborg Bachmann, das den Titel "Die Wahrheit ist jedem Menschen zumutbar" trägt. Diese Sentenz, die durchaus allgemeine Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen kann, gilt nicht nur für uns (das Volk), sondern und noch viel mehr für die türkise ÖVP bzw. diejenigen, die sich in deren Dunstkreis einnebeln; auch uns (der türkisen ÖVP) ist die Wahrheit zumutbar, wir können sie uns (auch uns selbst gegenüber, also reflexiv betrachtet) zumuten und danach handeln bzw. darauf basierend argumentieren.

Eingedenk einer solchen Sichtweise müssten die Aussagen der türkisen ÖVP ganz anders lauten:

Wir haben - pandemiebedingt, aus diesen und jenen Gründen und selbstverständlich in Unkenntnis künftiger Entwicklungen - Maßnahmen beschlossen, die Euch (das Volk) nachhaltig, über Jahre hinaus, schädigen werden; dafür verschulden wir, selbstverständlich auf Eure Kosten, Euren Staat; wir haben Euch diese "Suppe" eingebrockt, Ihr hingegen werdet sie auslöffeln müssen. Wir haben uns, aus tiefster Überzeugung und zu Eurem Wohl, für eine bedingungs- wie alternativlose Schuldenpolitik nie dagewesenen Ausmaßes entschieden, koste es Euch, was es wolle.

Das wäre die ungeschönte, durchaus allen zumutbare, Wahrheit.

Um das zu verstehen, müsste man jedoch weder Sebastian Kurz noch Gernot Blümel, Elisabeth Köstinger oder Margarete Schramböck heißen oder sein.

Wenn man das sich von selbst Verstehende, das Übliche und Notwendige zur Leistung hochstilisiert und als Erfolgsgeschichte verkaufen will, ist das in Wirklichkeit nichts als ein Armutszeugnis, das Resultat eines fehl geleiteten, aus den Fugen geratenen, wahnhaft anmutenden, Selbstverständnisses, eine beharrlich-widerwärtige Verleugnung der, jedem Menschen zumutbaren, Wahrheit.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass immer dann, wenn die türkise ÖVP ankündigt, eine Strategie (u.a. Grüner Pass) entwickeln, sich Gedanken über die Zukunft des Landes Gedanken machen zu wollen, an einem "Comeback-Plan" zu arbeiten bzw. zum wiederholten Mal in Europa eine Vorreiterrolle einnehmen zu wollen, damit weder Optimismus noch Erfolgsverheißung einhergehen, sondern das vielmehr nach "gefährlichen Drohungen" im Sinne zu erwartenden, sündteuren, weiteren Ungemachs klingt.

Dass man, angesichts der pandemiebedingt äußerst schwierigen Situation, nicht alles richtig machen kann, ist uns (dem Volk) durchaus bewusst. Damit nehmen wir - im Umkehrschluss - auch billigend zur Kenntnis, dass es zu Fehleinschätzungen kommt, falsche Entscheidungen getroffen werden und unser Geld (und sei es in Form einer weiteren Staatsverschuldung) dafür verwendet wird, das Schlimmste zu verhindern. Dazu sind wir (das Volk) durchaus bereit.

Der gravierende Unterschied zwischen uns (dem Volk) und der türkisen ÖVP ist hingegen, dass wir bereit sind zu verstehen, dass uns die Wahrheit zumutbar ist; das gilt für die türkise ÖVP aber keinesfalls. Lieber hofiert man sich selbst, lieber lobt man selbst, lieber stellt man sich selbst in einem guten Licht dar, das einem keinesfalls zusteht und lieber schmiert man sich wechselseitig reichlich Honig ums Maul. Man überhöht sich ständig nur selbst und überschätzt hilflos das eigene (intellektuelle) Vermögen, wohingegen man die Intelligenz des Volkes laufend beleidigt. 

So dumm wie Ihr glaubt sind wir nicht.

Und: All das zeigt, wie die türkise ÖVP mit dem Begriff der Wahrheit umzugehen pflegt. Die Äquidistanz zwischen türkiser ÖVP und Wahrheit scheint tatsächlich noch größer zu sein, als bislang vermutet.

Chr. Brugger

21.05.2021