Die Selbstzerstörung Europas

04.03.2022

Als einer der wenigen, auch stilistisch, sinnvollen Beiträge zur Situation rund um den Krieg in der Ukraine ragt jener von Günter Traxler im Standard vom 03.03.2022 hervor: In "Phasen und Reflexe" bringt Traxler das zum Ausdruck, was sich momentan pandemieartig über unseren Kontinent verbreitet. Mit phrasenhaften Stehsätzen samt reflexartigen Handlungen unternimmt die "westliche" Politik den untauglichen Versuch das zu verhindern, was - entgegen aller politischen  Prophezeiungen - unausweichlich scheint: Die Selbstzerstörung einer vermeintlichen Friedensidylle, der Mär eines nie enden wollenden Wirtschaftswachstums, der Annahme, kriegerische Auseinandersetzungen würden bei und rund um uns nicht mehr stattfinden.

Allein die verwendeten "Mittelchen" lassen deren Untauglichkeit bereits in einem schrägen Licht erscheinen; von einer neuen Zeitrechnung ist die Rede, schreibt Traxler, "gar einer Zeitwende (ist) zu hören, die einem beunruhigten Publikum von einem Tag auf den anderen das Patentrezept einer allgemeinen Aufrüstung schmackhaft machen sollen".

Wie man Putin mit guten Gründen den Vorwurf, ein kriegsverbrecherisches Manöver exekutieren zu lassen, nicht ersparen kann, müssen sich von der Leyen & Co vorwerfen lassen, die russische Invasion in der Ukraine als Ablenkungsmanöver zu missbrauchen, mit Zeitwenden- und Solidaritätsphrasen von den eigenen Verfehlungen und Verblendungen der letzten Jahrzehnte ablenken zu wollen.

Traxler entlarvt in seinem Beitrag u.a. Österreichs vorgeheucheltes "Aufrüstungsgefasel", die Ankündigungen, Neutralität neu denken oder auslegen, zumindest aber das österreichische Bundesheer milliardenschwer moderner ausstaffieren zu wollen.

Auf der europäischen Bühne spielen allerdings erheblich größere Kaliber eine bedeutendere Rolle, tritt das vor den Vorgang, was bislang in verstaubten Abstellräumen, gut behütet wie streng bewacht, unerledigt liegen geblieben ist:

  • Eine schier unvorstellbare Abhängigkeit Europas von Russland was Energieimporte betrifft, sohin ein energiepolitisches Totalversagen
  • Die völlige Ohnmacht und Wehrlosigkeit, wenn es (ohne USA) um die militärische Verteidigung Europas geht, sohin ein außen- und sicherheitspolitisches Totalversagen

Das sind nur zwei Beispiele dafür, was aus dem Beitrag Traxlers abgeleitet werden kann: Immer dann, wenn die eigenen Unzulänglichkeiten offensichtlich werden, wird mit hohlen, sinnbefreiten Phrasen argumentiert und pseudosolidarisch reflexartig gehandelt, um dabei auf den potenziell damit verbundenen, eigenen wirtschaftlichen Kollateralschaden völlig zu vergessen, alle volkswirtschaftlichen Überlegungen über Bord zu werfen.

Dass humanitäre Hilfe unabdingbar notwendig ist, steht außer Diskussion; dass das Geld kostet, ebenso - dabei handelt es sich aber um Selbstverständlichkeiten, um das Mindestmaß dessen, was getan werden muss. Selbst diese "vernunftfreie Trivialität" bleibt nicht von politischen Phrasen verschont, zu einem "einzigartigen europäischen Schulterschluss" hochstilisiert.

Das Füllhorn von Wirtschaftssanktionen wird über Russland ausgeschüttet, gebetsmühlenartig prophezeit, dass Putin samt Oligarchen unter diesem geharnischten Embargo "in die Knie" gehen würde. Dabei vergisst man scheinbar völlig darauf, was das für Europa, die einzelnen Staaten der EU, vor allem aber deren Einwohner, bedeutet. Inflationsraten weit jenseits der 5%-Grenze im Februar 2022, eine Explosion der Kosten und Preise für jede Form der Energie, insbesondere für Gas, Erdöl, Benzin und Diesel.

Das reflexartige Handeln der EU hat bislang Putin und seinen "inneren Zirkel" weder interessiert, beeindruckt, gar zum Einlenken bewogen; dafür dürfen Österreich und Deutschland für zwei sanktionsbedingte Bankenpleiten bereits mehr als sechs Milliarden Euro in die Hand nehmen und aus dem Staatsetat zum Fenster hinauswerfen.

Die Rechnungen für aus Russland dringend benötigten Ressourcen werden, wenn auch erheblich teurer als bisher, nach wie vor via SWIFT an die kriegsauslösende Republik der russischen Föderation überwiesen.

All das erscheint auch angesichts einer, als "historisch" bewerteten europäischen Solidarität gegen den Aggressor Putin, als völlig legitim und wirtschaftlich notwendig, mögen das manche auch heuchlerisch, inkonsequent oder kriegsfördernd nennen.

Wenn es seit Tagen aus Europa heraus heißt, den Krieg hätte nicht die russische Bevölkerung zu verantworten, sondern einzig der Kriegsverbrecher Putin, so richten sich die Auswirkungen der Sanktionen nahezu ausschließlich gegen die zivile Bevölkerung; dasselbe gilt für die "eingeplanten" Schäden in der europäischen Wirtschaft - die Auswirkungen, Verluste und alle damit verbundenen Kosten haben wir, alle Europäerinnen und Europäer, zu übernehmen bzw. zu bezahlen.

Dazu kommt, dass die politischen Phrasen von einer militärisch-kriegerischen Rhetorik indoktriniert sind, womit Angst geschürt, ein Gefühl der Unsicherheit und des Nichtweiterwissens verbreitet wird, das zu einer völligen Verunsicherung der eigenen, europäischen Bevölkerung führt.

All das Gesagte oder Geschriebene wird von den Politikern als exzellent und vorbildhaft, als zielführend und erforderlich bezeichnet; nicht müde werdend wird minütlich, stündlich, täglich das wiederholt und phrasenhaft in Mikrofone und TV-Kameras geträllert, was niemand mehr hören will oder kann: "Europa handelt zum ersten Mal geeint und zeigt solcherart Stärke, mit der Putin nicht gerechnet hätte", "Putin hat sich verkalkuliert", "wird am Ende den Krieg verlieren".

Wir könnten dieser Lobhudelei auf das eigene Tun reflexartig antworten: Wenn die Stärke Europas darin besteht, der eigenen Bevölkerung ebenso zu schaden, wie der (am Krieg unbeteiligten) Zivilbevölkerung in Russland, dann ist das keine Beleg für Stärke, sondern der sichtbarere Beweis für grenzüberschreitende Dummheit.

Insofern kann das Handeln der Regierenden in Europa, geht es nach Barbara Tuchman, als Torheit bezeichnet werden, den Nachweis dafür erbringt, dass "die Torheit der Regierenden" keine Utopie ist, vielmehr dem Phänomen, "dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft" entspricht.

Wem das noch nicht deutlich genug erscheint, dem kann erläutert werden, dass Tuchmann vier Arten von Missregierung definiert hat, die häufig auch in Kombination miteinander auftreten: Tyrannei oder Gewaltherrschaft, Selbstüberhebung, Unfähigkeit oder Dekadenz sowie Torheit oder Starrsinn. Jeder Leser kann also (bei sich) überlegen, welche dieser Kategorien auf Putin zutreffen und welche auf von der Leyen & Co; klar ist aber, dass von Torheit immer dann gesprochen werden kann, wenn zumindest drei der genannten Kriterien erfüllt sind.

Insofern wäre allen europäischen Politikern zumindest die Lektüre des Epilogs in Tuchmanns Werk empfohlen, in dem ein Zitat von Samuel Coleridge erhebliche Bedeutung erfährt: "Aber Leidenschaft und Parteigeist machen unsere Augen blind, und das Licht, das die Erfahrung spendet, ist eine Laterne am Heck, die nur die Wellen hinter uns erleuchtet".

Die Ablehnung bzw. das Ausschalten der Vernunft ist Übrigens das zentrale Merkmal der von Tuchmann liebevoll als Torheit bezeichneten, schier grenzenlosen Dummheit der Politiker und Beamten, das trojanische Pferd, das von der Leyen und die Ihren momentan durch Europa ziehen. Dazu berichtet die Autorin von Korruption, Amoral und Machthunger, der hochmütigen Missachtung aller Proteste und Klagen, einer Verblendung der Regierenden und ihrer Berater sowie dem Verlust eines ganzen Kontinents.

Wenn dem törichten Treiben der europäischen Phrasendrescher nicht bald Einhalt geboten wird, wird der Titel dieses Beitrages bald Realität werden - Traxler hat jedenfalls schon jetzt Recht: "Phrasen und Reflexe" sind das Gebot der Stunde, die Antwort Europas Politiker auf die von Putin aufgeworfene Frage, wie handlungsfähig die europäische Union denn tatsächlich sei.

Chr. Brugger

04/03/2022