Die neue Wirklichkeit

20.11.2021

"Der Lockdown in Österreich ist eine Bankrotterklärung und Ausdruck völliger Ratlosigkeit" schreibt Meret Baumann in der heutigen Online-Ausgabe der "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ); mit Solchem oder Ähnlichem kommentieren ausländische Medien das Ergebnis der "schwarzen Nacht" von Pertisau am Achensee, hoch über dem Inntal gelegen, im tirolerischen Bezirk Schwaz. Was dort, zu nächtlicher Stunde beschlossen wurde, erregt nicht nur innerhalb unserer Republik die Gemüter; auch vom Ausland aus dürfen wir erfahren, was man vom proklamierten Lockdown hält, der Impfpflicht, den unabsehbaren Folgen dieser Nacht im idyllisch gelegenen Dorf am Fuß des Karwendels.

Quelle: https:// de.wikipedia.org/wiki/Pertisau#/media/Datei:Pertisau_von_Osten.JPG - Joe MiGo - Eigenes Werk - CC0

Das, was Schallenberg, Mückstein & Co dort getan und nachfolgend verlautbart haben, dürfte hinlänglich bekannt sein.

Warum aber richtet man uns vom Ausland aus aus, wie dämlich und hilflos wir wären?

Das, was selbst bei uns bis vor ein paar Tagen niemand wahrhaben wollte, das, was u.a. BM Mückstein angekündigt hat, dementiert bzw. abgekanzelt (Kanzler Schallenberg) und kollegialiter kritisiert und abgetan wurde (BM Köstinger, BM Schramböck), ist eben jetzt "die neue Wirklichkeit". Aus, basta.

Es ist zwar nicht die neue Wirklichkeit, die wir wollen oder wollten; auch nicht jene, von der Frau Monika Martin singt, wiewohl der Text auszugsweise ganz gut passte: "Mein Gefühl dreht sich im Kreis, diese Nacht hat ihren Preis, den ich nicht bezahlen kann. Was geschehen ist, ist geschehen und ich werde dazu stehen. (...) Bin gestürzt durch Raum und Zeit, in die neue Wirklichkeit und ich fang von vorne an".

Nun, eine ernüchternd nüchterne Nacht danach, beschäftigte auch ich mich mit den bevorstehenden Folgen der durchzechten Vollrauschnacht in den Tiroler Bergen.

Lockdown für alle: Nichts Neues für bereits 3-fach Geeichte oder Geimpfte, Abgeriegelte, vom gesellschaftlichen Leben Ausgeschlossene - "business as usual" würde ich sagen, fragte man mich.

Impflicht für Alle: Was zu erwarten war, wird 2022 Teil der "neuen Wirklichkeit". Die vorzitierte Monika Martin würde wohl singen: "Du warst pure Fantasie (Anm.: die Impfpflicht), denn es gibt noch immer sie (Anm.: die Hoffnung), Finger weg, das war mir klar; doch der Wind hat sich gedreht, denn in unseren Augen steht, letzte Nacht waren wir uns nah".

Kennte man den komischen Lyriker Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern, käme man vielleicht zu folgendem "Ausweg":

"Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein, was nicht sein darf".

Nun bin ich aber längst wach und mein Sohn berichtet mir aus Wien, dass Demonstranten den Heldenplatz längst eingenommen hätten. Man darf sich also mit Morgenstern und "Palmström", der "unmöglichen Tatsache", vertraut machen, darf solcherart nicht länger träumend die "neue Wirklichkeit" willkommen heißen.

Balsam für meine leichte Verstimmung ist in jedem Fall, dass Schallenberg & Co "evidenzbasiert" enzschieden haben wollen; man dürfte folglich nicht im hoteleigenen Kaffeesud gelesen haben, als sich Schwarz-Rot-Grün bzw. die "UNIA-Koalition" am Achensee entschieden hat. Empirische Nachweise dürften also für die "neue Wirklichkeit" verantwortlich sein.

Spät, aber doch, mein BP Van der Bellen, viel zu spät meinen die Kritiker, konkursantrag-ähnlich und völlig ratlos eben die NZZ.

Wer nun tatsächlich Recht hat oder auch nicht bzw. niemand, spielt keine große Rolle. Es ist, wie es ist - damit dürfen alle, die davon betroffen sind, jetzt vorliebnehmen.

Vorwürfe, gar Schuldzuweisungen, man hätte den Sommer ein zweites Mal verschlafen, wider jede Vernunft nichts getan, kontert Schallenberg gekonnt: Im Nachhinein sei man immer klüger, man habe den Experten oder Expertinnen vertraut. Schuld sind die, die sich nicht impfen lassen, die Kickl-FPÖ, die Impfgegner sowie die Covid-19-Leugner.

Dass diese Argumentation falsch, wenn nicht gar pervers, sein könnte, hat niemanden zu interessieren; es ist, wie oder was es ist; "was geschehen ist, ist geschehen und ich werde dazu stehen" sänge die Martin an dieser Stelle.

Solidarität fordert man von uns, dem Volk, das man nie spalten wollte. Dass man es getan hat und immer noch tut, hat niemanden zu interessieren - weil es ohnedies schon ist, wie es ist.

Man wäre, wäre man nicht höflich, geneigt zu sagen, dass einer unter den Rauschnachtgeschädigten, nicht nur körperlich, alle anderen noch weit überragt, BM Faßmann.

Dafür, dass man Schulen und Universitäten offenlässt, obwohl bei den dort Lernenden die Inzidenzzahlen am höchsten sind, habe ich durchaus Verständnis, eher weniger, dass man will, dass Schüler und Studenten aber besser zu Hause bleiben mögen.

Wenn Faßmann dann aber in Aussicht stellt, dass man täglich und bei allen PCR-Tests durchführen will, um so die "Zahlenhohheit" wieder zu erlangen, dann wäre man geneigt zu sagen, es könnte sein, dass da jemand ohne Sturzhelm mit 30 km/h gegen eine Betonwand gelaufen sein muss, ehe er so etwas zu äußern in der Lage war.

Ehe man nicht über die entsprechenden Testkapazitäten verfügt, ist an eine flächendeckende, tägliche PCR-Test-Analyse nicht einmal ansatzweise zu denken; um dem enormen Schwund an PCR-Test zu entgegenzuwirken, das Horten von solchen Tests in heimischen Wohnungen und Häusern zu unterbinden, bedarf es einer entsprechender Strategie bzw. sinnvoller Sofortmaßnahmen, wie beispielsweise eine Kostenbeitragspflicht für User oder das Anerkennen des Ergebnisses von Antigentest. Wenn man in diesem Bereich nicht sofort etwas unternimmt,  wird man, wenn es sein muss auch vom Achensee aus, zusehen können, wie die Nation, Lockdown & Impfpflicht hin oder her, in der 4. Pandemiewelle ertrinkt. Sehenden Auges also in den sicheren Untergang?

Bei allem Verständnis für die Situation in den medizinischen Intensivstationen dieses Landes, wenn es sein muss auch , zum wiederholten Mal für Lockdown & Impfpflicht: Man hat in der Vollrauschnacht am Achensee vergessen, die wichtigste Weiche für eine Lockdown-freie Zukunft zu stellen bzw. umzustellen. Ohne korrekte Daten sind selbst Expertinnen und Experten ohnmächtig.

Aber auch hier und dafür gilt: Es ist, wie es ist. In Summe wird das wieder einigen Menschen das Leben kosten, wir werden sehenden Auges in die nächste, dann die 5. Welle stolpern und wieder nichts gelernt haben. "Bin gestürzt durch Raum und Zeit, in die neue Wirklichkeit und ich fang von vorne an" wird dann aber nicht mehr Frau Martin sondern der Nachfolger des Kurz-Eleven Schallenberg singen, der Vorzugsschüler des in den Ruhestand getretenen Maturanten.

Chr. Brugger

20.11.2021