Die Lippen der Scham
100 Tage vor dem Beginn der olympischen Sommerspiele hat "Paris 2024" seinen ersten "Skandal"; eine internationale Sportartikelfirma präsentiert ihre Kollektion für US-Leichtathletinnen – die damit einhergehende Kritik daran wächst sich zu einem "Shitstorm" aus, der mühelos selbst dem Anglizismus des Jahres 2011 in Deutschland gerecht wird: "Welle der Entrüstung im Internet, besonders in sozialen Netzwerken".
Quelle: https:// www.instagram.com/p/C51FOFduG1v/?utm_source=ig_embed&ig_rid=84af7031-a5c0-4bf8-81ea-5529d20671d8
Was ist tatsächlich passiert und "Glitzersteinchen des Anstoßes"?
"NIKE" setzt in der "Stadt der Liebe" auf schnittige, scheinbar die Leistung steigernde, Einteiler & Höschen des Labels "fit im Schritt" – und das regt eben auf, weil manche der "griechischen Siegesgöttin" nicht abnehmen, diese nur aus Performance-Gründen kreiert zu haben.
"Pink & freizügig" schreibt die "Bild", "die Olympia-Kleidung der US-Leichtathletinnen ist sexistisch" meint die "NZZ", der "Focus" titelt mit "Mein Intimbereich wird entblößt", lt. "Spiegel" sorgten "knappe Olympia-Uniformen für US-Athletinnen für Aufregung" und die heimische "Krone" darf gar mir "Vagina wird rausschauen! Olympia-Outfit regt auf" zitiert werden.
Es geht also (wieder einmal) darum, ob "Fashion" sexistisch ist, Frauen insofern gegenüber Männern diskriminiert werden, als sie durch auffällige, vor allem sub-abdominelle Sparsamkeit im Bereich einer ihrer intimsten Zonen darauf reduziert werden, bloß "Evastöchter" zu sein und eben deshalb nur dem Stereotyp des "weniger ist mehr" genügen mögen.
Quelle: https://www.instagram.com/p/C51FOFduG1v/?utm_source=ig_embed&ig_rid=84af7031-a5c0-4bf8-81ea-5529d20671d8
Während Athletinnen wie Sha'Carri Richardson, Anna Cockrell oder Athing Mo, Siegesgöttinnen gleich, für "NIKE" werben, sehen sich andere Sportlerinnen dadurch auf den eigenen Unterleib reduziert, ziehen sich beschämt auf ihre Venushügel zurück um sich dort der "constant pube vigilance" zu widmen – der ständigen Wachsamkeit im Intimbereich – Tara Davis-Woodhall bringt ihre Kritik auf den G-Punkt: "Wait, my hoo haa is gonna be out" – "warte, meine Vagina wird sich zeigen" um "hoo haa like", also zumindest etymologisch betrachtet mit einem lauten "Hurra", für Aufsehen zu sorgen.
In dieselbe "Spalte" schlägt Queen Harrison-Claye, die sinnigerweise den "European Wax Center" als Sponsor für alle enthaarungswilligen Athletinnen ins Spiel bringt.
Quelle: https:// www.facebook.com/photo/?fbid=10158395628132512&set=a.99351567511
Es ist, wie immer bei einer solchen Farce auf "Social Media", ein Streit um den epilierten "Bart" der vermeintlichen Kaiserin; es wurde, soweit ich mich erinnern kann, immerhin in den letzten Jahrzehnten speziell bei den Leichtathletikbewerben von Frauen, auf Scham- und Achselbehaarung gänzlich verzichtet und vermutlich freiwillig(!) dem "Schönheitsideal" entsprochen, das in der "Süddeutschen Zeitung" bereits vor langer Zeit angedeutet wurde: "Etwa neunzig Prozent der Frauen in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen sollen sich, einer Studie der Universität Leipzig zufolge, die Schamhaare ganz oder teilweise entfernen – wobei der Trend, so amerikanische Studien, deutlich zur Komplettenthaarung geht" ("Schamlos – Eine Mode wird zur Norm", SZ, 22.11.2013); bereits sechs Jahre vorher (09.09.2009) war in "Die Zeit" zu lesen: "Intimrasur – Schönheit unter der Gürtellinie".
Dadurch wurde möglich, was zu Zeiten einer Marita Koch, Jarmila Kratochvílová oder Ulrike Meyfarth undenkbar schien – ein gänzlicher Verzicht auf Scham- und Achselbehaarung samt "Vollvisier-Frottee-Höschen" à la "Liebeslusttöter".
Quelle: https://twitter.com/tar___ruh/status/965329958238384130/photo/2
Wenn sich neuerdings Frau Davis-Woodhall um ihre Vagina sorgt, dann sollte sie uU besser auch darauf verzichten, auf "Twitter" Fotos von sich zu posten, die just das betonen, was sie (angesichts der "NIKE-Gala" in Paris) neuerdings verhüllt bzw. geschützt sehen will oder sich zumindest fragen, wer finanziell dafür verantwortlich ist, dass sie sich in der recht komfortablen Lage befindet und es sich leisten kann, als Weitspringen oder Hürdenlaufen tätig zu sein.
Wenn Frau Queen Harrison-Claye sogar, um aufzufallen, einen Klassiker der Haarentfernung ("Waxing") bemüht, sollte sie sich ihrer Werbung für Luxus-Lingerie der Marke "Agent Provokateur" erinnern, die für "markige" Sprüche wie "Böse Mädchen haben mehr Spaß", "Warnung: Kurven voraus" oder "Die ganze Nacht wach" bekannt ist: "I'm always embracing myself. No matter the venue, or the attire, I always feel fierce and like a queen" schreibt sie auf "Facebook" – also egal, wo sie auftritt oder was sie trägt – Harrison-Claye fühlt sich immer stark wie eine Königin.
Quelle: https://www.facebook.com/agentprovocateur/photos/a.99351567511/10158137154977512/?
Manche Leichtathletikdisziplinen sind ja nicht alleine deshalb so beliebt, weil dermaßen gut weit- bzw. hochgesprungen wird oder jemand schneller laufen kann als die "Frau von nebenan"; der Grund für die Popularität sowie die damit mittlerweile einhergehenden Verdienstmöglichkeiten weiblicher Leichtathletinnen ist viel eher dort zu suchen, wo die elegant geschmeidige Symbiose aus schnöden wirtschaftlichen Interessen, körperlicher Attraktivität ("Sexappeal") & ansprechenden sportlichen Leistungen beheimatet ist – in der gnaden- wie rücksichtslosen Inszenierung einer Sportart samt dem damit untrennbar verbundenen, gleichsam systemimmanenten Höchstmaß an Freizügigkeit & Laszivität.
Quelle: https://valse-boston.livejournal.com/575549.html
Ob sich Sex, im Sinne von "Sex sells", gewinnbringend verkaufen lässt, ist, marketingmäßig bzw. psychologisch und rechtlich betrachtet, durchaus umstritten; ohne Sexappeal bzw. "Bezugnahme" auf typisch Feminines ginge, zumindest unter pekuniären Gesichtspunkten, werbemäßig für leichtathletische Protagonistinnen heutzutage jedenfalls weniger als mehr; was 1871 mit "Pearl Tobacco" begann, wurde spätestens 1953 zum Marketingrezept schlechthin: Das Hochglanzmagazin "Playboy" war am Markt …
Quelle: https://celeb.gate.cc/susen-tiedtke/pictures/018ed09559.html
Wie immer man das moralisch und/oder ethisch betrachtet: Seit damals boomt das "weniger ist mehr" vor allem in der Werbung – samt allen damit verbundenen Annehmlichkeiten, Animositäten & Aversionen; dass die für bestimme Disziplinen erforderliche Anatomie die Athletinnen in zwei Lager spaltet ist daher, vor dem Hintergrund gesellschaftlicher ästhetischer Wunschvorstellungen, eine, wenn auch ungerechte, natürliche Gegebenheit bzw. Tatsache; so bitter das für Kugelstoßerinnen, Diskus- oder Hammerwerferinnen sein mag: Es ist eben einfacher wie werbewirksamer, eine 50kg-leichte "Aphrodite" aus den Hymnen des Homer in Szene zu setzen als eine 110kg-schwere "Wohlgegürtete" aus dem Herakles-Mythos.
Quelle: https://siusalukis.com/news/2021/7/24/track-and-field-deanna-price-heads-to-2020-olympics
Insofern ist eine große Überraschung, nein verständlich, dass in Paris nicht eine Laulaga Tausaga oder DeAnna Price (siehe Bild oben) für "NIKE" auftreten durften sondern eben Athing Mo (siehe Bild unten) & Co; ebenso nachvollziehbar ist, dass dereinst Susen Tiedtke & Amy Acuff und nicht Betty Heidler & Nadine Kleinert das Cover des "Playboy" zieren durften …
Quelle: https://www.instagram.com/athiiing/p/Cnf0YVvPcYd/
… am Ende des Tages ist dieser "Skandal" aber eben auch nur das, was künstlich herbeigerufene oder herbeigeschriebene Affären so an sich haben: Werbung für das, was skandalisiert wird und worüber man sich öffentlich echauffiert:
Quelle: https://twitter.com/tar___ruh/status/1405305455258132483/photo/3
Der Sache an sich (Reduktion von Sexismus im Sport bzw. das Relativieren fragwürdiger weiblicher Schönheitsideale ) hat man damit keinen großen Gefallen getan … und ganz im Ernst: Frau Davis-Woodhall muss sich um ihre Schamlippen keine Sorgen machen – wenn sie es nicht will, wird niemand ihre Vagina zu Gesicht bekommen.
Chr. Brugger
22/04/2024