Die Freiheit, die gemeint sein soll
Im Lichte der beabsichtigten Impfpflicht erstrahlt neuerdings der Begriff der Freiheit in einem sehr zwielichtigen Kolorit. Es hat beinahe den Anschein, als würde man "Freiheit" neu erfinden und definieren wollen. Da man gar nicht willens und in der Lage ist, sich selbst mit diesem Begriff zu beschäftigen, darüber nachzudenken, was Freiheit heute bedeutet, bemüht man vermeintlich Klügere, solche, die sich mit dieser Begrifflichkeit, unter der man gemeinhin die Versprachlichung eines Gedankeninhaltes versteht. Anfangs denkt man über etwas nach und erhebt das Substrat daraus zu einem Begriff, den man (anhand der Gedanken) nachfolgend zu erklären versucht.
So gibt es auf Basis dieser Grundüberlegung sehr unterschiedliche Freiheitsbegriffe, Gedanken samt Erklärungsversuchen, manchmal auch Definitionen, die sich allesamt, mehr oder weniger, darum bemühen, den Anspruch erheben, verallgemeinerungsfähig zu sein; für jedermann verständlich, nachvollziehbar und, im besten Fall, mit einem Mindestmaß an Plausibilität versehen.
Parteipolitiker aller Farbschattierungen, denen es an eigenem Verstand mangelt, verwenden neuerdings solche Freiheitsbegriffe im Schlaglicht eines durchaus fragwürdigen wie bemerkenswerten Gesetzesvorhabens.
Quelle: © imago images / Kollektion Kharbine-Tapabor
Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant beispielsweise erlebt eine "fragwürdige" Renaissance, zumal das oft strapazierte Zitat "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt" nicht von ihm herrührt.
Seinen Ursprung dürfte dieser Satz in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26.08.1789 haben; in Art. 4 dieser Erklärung lautet er allerdings, zumindest kontextuell, etwas anders: "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch Gesetz festgelegt werden".
Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen (Gemälde von Jean-Jacques-François Le Barbier, ca. 1789)
Der parteipolitisch genutzte, zweckwidrig und urheberrechtlich missbräuchlich verwendete "Satz von Kant" wird, losgelöst von seinem historischen Umfeld, nicht nur isoliert betrachtet, vielmehr sogar noch dahingehend ausgenutzt, parteiliches bzw. koalitionsbedingtes Handeln transparent und nachvollziehbar erscheinen zu lassen oder zu rechtfertigen.
Zitierte man den zweiten Satz aus Art. 4, erhellte einerseits, was die geistigen Väter der Erklärung vom August 1789 (Montesquieu und Rousseau) tatsächlich gemeint haben, andererseits aber auch, dass man den anhaltend verwendeten ersten Satz ohne seine(n) "Nachfolger" im Text niemals außerhalb des gesamten Bezugsrahmens betrachten kann.
Baron de Montesquieu, 1728
So aber nutzt man die erwähnte Wortfolge nur dahingehend aus, den eigenen Standpunkt, der noch dazu bereits im Ansatz falsch ist, zu untermauern. Daneben bleibt gänzlich unberücksichtigt, wie unerwähnt, dass der vorliegende Entwurf nicht einmal im Ansatz dazu geeignet ist, das angestrebte Ziel (Erhöhung der Durchimpfungsrate) zu erreichen. Überdies widerspricht der Entwurf allen logischen Gesetzwerdungsmechanismen und der bisherigen Konzeption des Verwaltungsstrafverfahrens im Österreich der zweiten Republik.
Die dafür Verantwortlichen (Mückstein & Edtstadler) versuchen, ein völlig neu- wie abartiges Konstrukt zu installieren, das mit den bislang geltenden Prinzipien nicht in Einklang zu bringen ist; der Möglichkeit, sich von einer gesetzlichen Verpflichtung "freizukaufen"; der Möglichkeit, einer Verwaltungsstrafe (in einem laufenden Verwaltungsstrafverfahren!) dadurch zu entkommen, als man den Nachweis einer Impfung erbringt oder das Vorhandensein einer Ausnahme von der Impflicht nachweist; einem Verwaltungsstrafverfahren mit Androhung hoher Geldstrafen ohne Sanktionierung für den Fall der Uneinbringlichkeit, einer sanktionslosen Pflicht für alle Schüler und den größten Teil der Lehrlinge sohin; und, zu guter Letzt, einem Verwaltungsstrafverfahren, in dem der jeweilige Gesundheitsminister das Recht hat, im Wege einer Verordnung eine einheitliche Mindestgeldstrafe festzulegen - losgelöst und unabhängig von Einkommen, Sorgepflichten und sonstigen Kriterien, die bei der Festsetzung einer Verwaltungsstrafe gemeinhin üblich sind.
Allein deshalb wäre zu erkennen, dass das Zitat "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt" keine taugliche Argumentationsbasis darstellt. Nur weil etwas "klug klingt", jemanden zugeschrieben wird, von dem es nicht stammt, derjenige, von dem es herrühren soll, aber als klug gilt, darf noch lange kein Anlass dafür sein, "Äpfel mit Birnen" verwechseln zu wollen.
Die "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" war das Endergebnis der Epoche der Aufklärung, der bahnbrechende Schlusspunkt hinter einem jahrhundertelang andauernden Streit und kriegerischen Auseinandersetzungen um die Freiheit an sich.
Diesen "Kampf um die Freiheit" nun mit einer "Impfpflicht" in Verbindung bringen zu wollen ist nichts anderes als eine parteipolitische Bankrotterklärung und eine Verhöhnung derjenigen, die im Kampf um die Freiheit ihr Leben verloren haben, kaum vorstellbaren Repressionen ausgesetzt waren und für ihr freiheitsliebendes Denken hingerichtet wurden. Die Freiheit des 18. Jahrhunderts hat mit der Freiheit, die heute parteipolitisch missbraucht wird, nicht das Geringste zu tun.
Jean-Jacques Rousseau, Pastell von Maurice Quentin de La Tour, 1753
Man verrät, das wird die Parteipolitiker hierzulande wenig kümmern, damit zugleich die zukunftsweisenden und prägenden Ideen von Männern wie Montesquieu und Rousseau, opfert sie am Altar der eigenen Unfähigkeit, den Begriff der Freiheit sinnerfassend verstehen zu wollen oder zu können, im historischen Umfeld zu betrachten. So wird, lapidar und unreflektiert, von einer selbst konstruierten, kruden, nahezu absurden Freiheit gefaselt, die man in einem Gewand auftreten lässt, das bereits vor mehr als 200 Jahren nicht mehr en vogue war; einer verqueren Freiheit, die damit scheinbar gemeint sein soll.
Man stellt damit einmal mehr unter Beweis, dass einfaches Denken weder selbstverständlich noch möglich erscheint. Selbst dem Ignorantesten unter den Denkunfähigen müsste es aber möglich sein, herauszufinden, was sich hinter der "praktischen Freiheit", die Kant meinte, verbirgt. Das Problem, selbst dazu nicht fähig zu sein, ist aber wesentlicher einfacher zu erkennen, als es scheint: Kants Selbstverständnis zur Einsicht setzt Vernunft bzw. ein vernünftiges Wesen voraus, das dazu in der Lage ist, nach selbst erhobenen Prinzipien zu entscheiden. Ist allerdings dieses Einsichtsvermögen nicht (mehr) vorhanden, handelt es sich, nach Kant, bei solchen Lebewesen nicht um Menschen, sondern um Tiere, deren Willkür sinnlich-pathologische Antriebe innewohnen.
Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Chr. Brugger
16.12.2021