Der Turm der bunten Steine
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der kahle Strand, der klare Himmel, Blau in allen Nuancen; nur er und sie, sonst niemand; er spielt mit den Steinen, so bunt, so zahlreich, schön anzusehen; ein Strand für sich allein; die Mutter schläft, seit Stunden; die Sonne, der Wind, der Wein, der Gin, vermischt mit Tonic, bevorzugt von ihr, nicht der Sohn; der Sohn sieht ein, er ist allein, allein wie sie mit ihren Gedanken; sie ist nicht Hilfe, vielmehr Last, nicht Mutter, Freundin, nur sein Schicksal; sie meint es gut, macht vieles falsch, der Tag verplant, minutiös; am Morgen wach, das erste Glas, das Zittern lindern, den Schmerz im Kopf; das erste Glas, dann wird es besser, sie kann dann klarer denken; der Schmerz lässt nach, das Zittern auch, ruhige Hand, das Glas ist sicher; er geht zur Schule, er ist der Beste, niemand weiß, woher er kam; er lernt so gerne, viele Dinge, lernt die Sprachen, fließend leicht;
wenn er dann heimkehrt, liegt das Elend längst am Sofa, in einem Zimmer, nur bestimmt für sie; niemand sonst, schon gar nicht er, erhält dort Zutritt; dort zieht sie sich zurück, so gut es geht, schläft, denkt nach, ihr Leben; niemand stört sie, klopft, betritt, niemand sonst, nur er; Schwester, Brüder, weit entfernt, er nie da, weit in der Welt; andre Frauen sind sein Leben, Arbeit, Feste, unstet leben; er, der Sohn, sieht kaum den Vater, immer fort und nie bei ihm; er, der Vater, liebt den Sohn, zeigt ihm das jedoch fast nie; er, der Sohn, weiß nicht genau, liebt er ihn, verehrt er ihn; liebt er sich am Ende mehr, liebt er sich, für sich allein; die Mutter schläft und redet doch, scheint sich doch zu sorgen; nasse Stirn und wirre Worte, er kann sie kaum verstehen; immer Meer, der Sohn, das Leben, kaum verständlich, ohne Klammer;
lose Worte ohne Rückhalt, immer er, der Sohn, der Kleine; finden, Meer, der Sohn fast tot, helft ihm, helft ihm, rettet ihn;
im Schlaf waren ihre Gedanken klar, die Klammer des Verbindenden hielt alles zusammen; ihre Worte, die sie von sich gab, hinterließen nur Lücken, die er bislang nicht schließen konnte; so sehr er sich bemühte durchlöcherten weiterhin offene Fragen sein Denken, blieb alles ein Rätsel; sobald sie wach war, waren Meer, der Sohn, das Leben kein Thema; sie erinnerte sich nicht mehr, bestritt sogar, geschlafen zu haben; bloße Unterstellungen, nichts war wahr, alles eine reine Illusion, sonst nichts;
ihr fortschreitend schlechter werdender Gesundheitszustand bereitete ihm Sorgen; so sehr er sich bemühte, sie verweigerte sich dem Notwendigen, litt vor sich hin und er litt mit ihr; auch am Meer, am Strand schlief sie ein, ließ ihn unbeobachtet zurück; ihre sonstige Sorge um ihn löste sich auf, ließ sie schlafen, während sie zuvor noch keinen Moment die Gedanken und Augen von ihm fernhielt, zu sehr dachte sie an den Moment, als sie ihn, fast leblos, im Wasser treiben sahen;
zu sehr hatten Wein und der geliebte Gin ihre Aufmerksamkeit vernebelt, eingehüllt in ein Gefühl der Vollkommenheit und Allmacht; von einer Sekunde auf die andere verließ jede Wahrnehmung ihren Geist, riss sie hinab in einen tiefen Schlaf, gleich einem Koma ohne jede Erinnerung an den Moment davor;
er spielte mit den zahllosen bunten Steinen, die der Strand ihm zur Hand gab; er türmte sie auf, so hoch er nur konnte; stundenlang spielte er mit ihnen, den verschiedenen Farben und Formen;
niemand störte ihn, nicht einmal der mehr und mehr zunehmende Wind, der das Wasser allmählich ansteigen ließ; bevor sie das Wasser erreichte, erlöste er sie aus ihrem Traum; sie wusste nicht mehr, wo sie war, blickte ihn ahnungslos an, vernahm das Wasser vor ihren Füßen, nahm ungläubig zur Kenntnis, dass es schon spät war, erkundigte sich nach seinem Befinden; die Sorge kehrte zurück, der fragende Blick, die stille Sehnsucht nach ihm;
beruhigend redete er auf sie ein; es sei nichts geschehen, er hätte das Wasser gemieden, nur Steine gesammelt und aufgetürmt; voller Stolz zeigte er ihr seinen bunten Turm, der, knapp neben ihr, entstanden war; er gefiel ihr; wortloser Stolz auf das Werke ihres Sohnes; kein anerkennendes, lobendes Wort; nur ein stiller Blick auf den Turm, aus den Steinen des Strandes erbaut; er hätte sich Lob und Anerkennung erwartet; ein paar Stunden Arbeit, scheinbar alles umsonst; die Freude wich der Verzweiflung, der Stolz verkehrte sich in Kränkung, die Tat wurde wertlos, das Werk nur entweiht;
sie kehrten zurück in die Stadt; der Chauffeur war sein Freund, sein einziger Freund, der Wort hielt und half, so gut er nur konnte; er half auch der Mutter, sofern sie es zuließ;
er kam nach Hause, sie wartete nicht, zu oft war er gar nicht gekommen; immerzu Lügen, nie wahre Worte, Ausreden, Blumen, das schlechte Gewissen; er war niemals ehrlich, von Anbeginn an, sie war nur Mutter, nie Frau;
für ihn war sie wertlos, die Kinder erwachsen, nur er war verblieben für sie; er genoss seine Freiheit, das Geld und die Macht, sie nur den Wein und den Gin; dazwischen stand er, das wachsende Kind, sein Fortgang nur Frage der Zeit ...
21.08.2017