Die rote Linie des Karli N.

04.11.2022

An und für sich sollte ich mich heute mit anderen Themen beschäftigen; allein, meine Pflicht als Staatsbürger nötigt mich gleichsam zu einer Änderung meiner Pläne.

Nicht zuletzt aus Anlass der Sondersitzung im Nationalrat am Allerseelentag werde ich meine Ansicht zu Karl Nehammers Analyse der "Demokratie" und seines, nur ihm eigenen, "Parlamentarismusses" (hieße es nicht eigentlich Parlamentarismus - selbst im Genitiv?) äußern; nun hat der Parlamentarier Leichtfried seinem türkisen "Kollegen" Stocker anlässlich dieser Sondersitzung "präpotente Unwissenheit" zum Vorwurf gemacht - allenfalls gilt diese Anschuldigung auch für den Nachnachfolger von Kurz; wir werden sehen.

Quelle: https://www.dolomitenstadt.at/2022/11/02/nehammer-zu-oevp-affaere-so-bin-ich-nicht-und-so-sind-wir-nicht/

Bereits am 05.09.2022 hat Nehammer öffentlich Fragen aufgeworfen:

  • Wer legt denn fest, was Moral ist?
  • Wer sagt, was gute Sitte ist?
  • Wer sagt jetzt, was gerade ethisch ist oder nicht?

Seine Antwort darauf, ehe er sich die erwähnten Fragen überhaupt selbst stellen konnte, war Folgende: "Wir sollten auch, finde ich, in Österreich die Verfassung so ernst nehmen, wie sie tatsächlich ernst zu nehmen ist; und die sagt auch, in Österreich ist jemand erst schuldig, wenn er schuld gesprochen wird, aber nicht von den Medien, nicht von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss sondern von Gerichten (...) was anderes als das sollte denn die Linie sein, die ein Maß ist" ... es gibt demnach in einer Demokratie nur eine Richtschnur und das ist das Gesetz. Dabei beruft sich Nehammer auf einen "Verfassungsrechtler" namens Noll, einen Abgeordneten der ehemaligen "Liste Pilz", der zu diesem Thema etwas geschrieben haben soll.

Da also, so die Logik Nehammers, Moral, Ethik und gute Sitten nicht definierbar oder konkret genug wären, würde die "rote Linie" nur überschritten, wenn politische Mandatare tatsächlich rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wären.

Quelle: https://www.oevp-irdning-donnersbachtal.at/corinna-scharzenberger-unsere-kandidatin-fuer-den-nationalrat/#iLightbox[gallery1973]/0

Diese Logik bedeutet sohin, dass politische Mandatare erst zu einem Zeitpunkt mit "parteilichen" Konsequenzen zu rechnen hätten, wenn sie ein rechtskräftiges Urteil zugestellt erhalten haben. Davor sieht Nehammer keinen Handlungsbedarf.

Im Unterschied zu Nehammer ist aber der österreichischen Rechtsordnung beispielsweise der Begriff der "guten Sitten" nicht fremd.

Es gibt zu diesem Begriff eine ganze Flut an oberstgerichtlicher Judikatur und juristische Aufsätze in Hülle und Fülle.

"Gegen die guten Sitten verstößt, was offenbar geradezu widerrechtlich ist, ohne gegen ein ausdrückliches gesetzliches Verbot zu verstoßen" ist beispielsweise bereits in der Entscheidung 6 Ob 133/65 zu lesen.

Die sog. "Anstandsformel" besagt, dass alles "gegen die guten Sitten verstößt, was dem Rechtsgefühl der Gemeinschaft, das sind alle billig und gerecht denkenden Menschen, widerspricht".

Am 07.10.1974 vertritt der OGH auch folgende Ansicht (1 Ob 158/74): "Das Gesetz anerkennt sittliche Grundsätze ("allgemeine Grundsätze der Gerechtigkeit"), die so allgemein anerkannt sind, dass es zu ihrer Anwendung keiner besonderen Gesetzesbestimmung bedarf. Sie durchbrechen selbst die geschriebene Norm".

Um das Ganze abzukürzen: Aktueller "Stand der Dinge" ist, dass "die guten Sitten ein Teil der Rechtsordnung sind und was gegen die guten Sitten verstößt, ist rechtswidrig".

Insofern kann sich Nehammer keinesfalls auf den Standpunkt "Man kommt zu einem gemeinsamen Befund, was eine Gesellschaft akzeptiert oder eben nicht akzeptiert" zurückziehen kann; was gegen die "guten Sitten" verstößt ist rechtswidrig und wird von einer "Gesellschaft" niemals akzeptiert.

Quelle: https://www.vp-frauen.at/2019/05/19/am-26-mai-ist-eu-wahl-jede-stimme-zaehlt-4/

Wenn Nehammer seinen eigenen Ansatz "Man kommt zu einem gemeinsamen Befund, was eine Gesellschaft akzeptiert oder eben nicht akzeptiert" ernst nehmen würde, könnte er sich selbst in seinem eigenen "Denkkonstrukt" oder "Hirngespinst" nicht auf den Standpunkt zurückziehen, das Handeln politischer Mandatare wäre an den "guten Sitten" nicht objektiv messbar.

Es könnte ja sein, dass Nehammer, mangels Bildung, von den im Einzelfall klar bestimmbaren "guten Sitten" keinerlei Kenntnis hat; da sich aber, auch das ist gesetzlich geregelt, niemand auf seine eigene Unwissenheit berufen kann, wenn etwas zum Gesetz geworden ist, hilft ihm in diesem Fall auch seine eigene Dummheit nichts. Denn auch auf einen "Rechtsirrtum" kann sich Nehammer nicht berufen, da selbst bei ihm anzunehmen sein dürfte, er sollte eigentlich Kenntnis vom Rechtsgrundsatz der "guten Sitten" haben können.

Selbst wenn aber die "guten Sitten" für Nehammer nichts wert sein sollten, käme kein Licht ins Dunkel seiner Überlegungen, zumal zweifelsfrei davon auszugehen ist, dass er zumindest dem "Verhaltenskodex der Österreichischen Volkspartei" unterliegt bzw. derselbe auch für ihn gilt.

Nun sind aber die leitenden Grundsätze des selbstverordneten Parteikodex "Anstand & Takt", die in der Form konkretisiert werden, als jeder politische Funktionsträger "Format haben und Format geben muss"; dazu kommt eine "solide berufliche Grundlage", entscheidend sei auch eine "gelungene Kandidatenauswahl"; beim "Format haben" und dabei, auf eine solide berufliche Grundlage verweisen zu können, scheitern neben Nehammer auch Kurz & Co.

Die eigenparteilich und selbst verordnete "Pflichtenethik" geht dabei jedenfalls auch "über die strikt einzuhaltende Rechtsordnung hinaus".

"Im Bemühen, verloren gegangenes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik zurückzugewinnen, hat die Volkspartei zusätzlich zu vorhandenen gesetzlichen und statutarischen Regelungen für ihre Funktionsträgerinnen und Funktionsträger" eben einen Verhaltenskodex beschlossen, "der die Arbeit der Politikerinnen und Politiker mit notwendigen Standards als Leitlinie begleiten soll und so auch die Wahrung der von der Volkspartei vorausgesetzten Standards gewährleistet".

In diesem Kodex finden sich noch weitere "Maßstäbe" oder "Leitlinien" bzw. "Standards":

  • Allgemeines Verhalten, das der Vorbildfunktion gerecht wird
  • Interventionen oder Protektionismus mit dem Ziel einer gewollten Ungleichbehandlung bzw. unsachgemäßen Entscheidung sind strikt abzulehnen
  • Zuverlässigkeit bei Zusagen (Versprechen)
  • Sparsamer Umgang mit öffentlichen Mitteln
  • Vorbildliches Verhalten in den parlamentarischen Gremien
  • Strenger Maßstab bei der Inanspruchnahme öffentlicher Ressourcen (besonders bei Reisen)
  • Das Verhältnis zwischen Inseratenpreis und Werbewirksamkeit muss angemessen sein

Es liegt mir fern, mir die Mühe zu machen, das bislang bekannt und öffentlich gewordene Verhalten aller aktiven und ehemaligen ÖVP-Mandatsträger anhand der zuvor genannten "Standards" einer Überprüfung zu unterziehen; dafür ist mir meine Zeit zu kostbar und der mutmaßliche Sittenverfall innerhalb der ÖVP viel zu evident.

Quelle: https://twitter.com/Josef_Redl/status/1466458837674827783

Beim Worthalten, der "Zuverlässigkeit bei Zusagen" (Versprechen)" - also, nehmen es Nehammer, Schallenberg & Co jedenfalls nicht allzu ernst - anders können z.B. ihr verbriefter, kollektiver Rücktritt bzw. die "gemeinsame Erklärung der ÖVP-Regierungsmitglieder" nicht interpretiert werden; hätte sie Wort gehalten oder das getan, was sie damals vollmundig versprochen haben, säßen Nehammer & Co längst nicht mehr in der Bundesregierung - der Aufschrei der Ethikkommission bzw. deren Vorsitzender war jedenfalls leise genug, damit man ihn in Wien nicht hören musste.

Nur eines darf abschließend festgehalten werden: Wenn Nehammer, Stocker & Scharzenberger der Ansicht sind, die "rote Linie" würde einzig durch das Strafrecht bzw. eine rechtskräftige Verurteilung gezogen, können sie sich zumindest mit ruhigem Gewissen als Beitragstäter zum Sittenverfall der Parteipolitik bezeichnen, als Totengräber von "Anstand & Takt", meinetwegen auch als Sargnageltrilogie alles Ethischen, als moralische Trinität perfidester Ignoranz.

Ich stelle mir nur die Frage, wie verkommen Menschen sein müssen bzw. wie moralisch verwahrlost Menschen überhaupt sein dürfen, dass sie in der Lage sind bzw. noch immer die Möglichkeit haben, permanent und öffentlich solchen Schwachsinn ungestraft zu verbreiten; handelte es sich dabei nicht gerade um diejenigen, die "unser" Vertrauen mit Füssen treten, das Land moralisch verlottern lassen, denen nichts zu blöd ist und die sich für nichts, auch noch so krankhaft Anmutendes, schlecht genug sind und es sich dabei zeitgleich nicht auch noch zufällig um die "Spitzen" der heimischen Exekutive handelte, ich hätte sogar bedingt Verständnis; so aber ist an und für sich alles gesagt - auch was die präpotente Unwissenheit von Jörg Leichtfried betrifft.

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000140241183/im-zentrum-ueber-eine-oevp-im-dilemma-noch-ein-akt

Wer mir nicht glaubt oder Recht geben will, für den zitierte ich an dieser Stelle Univ.-Prof. Dr. Peter Filzmaier "Im Zentrum" am 23.10.2022: "(...) die rote Linie, dass das das Strafrecht nur sein soll, ist der größtmögliche Unsinn, denn jede Partei, nicht nur die ÖVP, ist eine Gesinnungsgemeinschaft von Menschen, die einen gemeinsame Wertekanon vertreten; dieser Wertekanon kann natürlich nicht sein, passen wir auf, dass wir nicht kriminell werden, sondern das muss ja wohl, bei einer christdemokratischen Partei im christlichen Bereich, viel tiefer gehen, deshalb gibt es ja auch einen Ethikrat und einen Verhaltenskodex; sonst könnte die ÖVP das ja gleich abschaffen und müsste sich nur von einem Strafrechtsexperten gut beraten lassen (...)".

Wie allerdings Nehammer seine Aussage "so bin ich nicht" unter Beweis stellen will, bleibt ob seiner absurden Ansicht zur "roten Linie" bzw. seiner fehlenden Einsicht, wenn es um allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze geht, mehr als fraglich; sollte es sich dabei allerdings um ein Versprechen handeln, droht ihm - wie anderen auch - jedenfalls der Parteiausschluss durch seine eigene, parteiinterne Ethikkommission. Allenfalls hat er ja seine eigene "roten Linie" längst auch selbst überschritten.

Chr. Brugger

04/11/2022