Demokratie versus Autokratie in Zeiten von COVID-19
Sieht man sich den Verlauf der 7-Tages-Inzidenz in Österreich (seit Mitte März 2020) etwas genauer an, kann man Folgendes feststellen:
- Der Wert von 50 wurde in den ersten sieben Monaten der Pandemie nur im Zeitraum vom 27.03. bis 01.04.2020 überschritten
- Ab dem 15.09.2020 lag der Wert aber, bis heute, immer über 50 und erreichte dabei (im österreichischen Durchschnitt) am 12.11.2020 mit 565 den absoluten Höhepunkt
- Seit dem 12.11.2020 ist der Wert, mehr oder weniger, kontinuierlich gesunken und beträgt (Stand 21.01.2021), österreichweit berechnet, 119
Experten und Politiker gehen davon aus, dass erst bei einem Wert unter 50 die zuständigen Behörden wieder in der Lage sind, Infektionsketten umfassend nachverfolgen und allenfalls durchbrechen zu können. 50 wird daher vermutlich auch der Maßstab für den nächsten Lockdown sein.
Geht man von diesem Wert aus, dann ergibt sich, weltweit betrachtet, derzeit folgendes Szenario:
Mit Stand 21.01.2021 gibt es insgesamt 72 Länder, in denen die 7-Tages-Inzidenz unter 10 liegt; ein für Mitteleuropa derzeit vollkommen unrealistischer Wert.
Unter dem derzeit von Österreich und Deutschland angestrebten Wert 50 gibt es insgesamt 101 Länder, deren Einwohnerzahl in Summe 5.700.694.045 beträgt, sohin ca. 75% der Weltbevölkerung.
Betrachtet man diese Länder nicht nach der 7-Tages-Inzidenz, sondern unter anderen Gesichtspunkten, kann man damit durchaus Bemerkenswertes zu Tage befördern.
Erstens fällt auf, dass sich von den 72 Ländern <10 nur ein einziges in Europa befindet, nämlich Island (9,1).
Von den 101 Ländern <50 sind Europa in Summe 5 zuzuordnen; neben Island sind das Griechenland (29,8), Finnland (35,2), Bulgarien (41,8) sowie Norwegen (47,2).
Der "europäische Anteil" an den Ländern <10 beträgt folglich 1,39%, derjenige <50 4,9%. Noch eklatanter ist die "Beteiligung" Europas, wenn man zur Berechnung die Einwohnerzahlen heranzieht: <10 sind es 0,00716%, <50 errechnet sich ein Prozentsatz von "immerhin" 0,51.
Afrika, nach wie vor das "Armenhaus der Welt", kann da, vergleichsweise, mit ganz anderen Zahlen aufwarten. < 10 sind es 45,83% und <50 41,58% (berechnet nach der Anzahl der jeweiligen Länder). Dazu muss man noch ergänzen, dass sich im Bereich <50 bereits 42 der 55 afrikanischen Länder befinden (76,36%), hingegen nur 5 von 47 europäischen (10,6%).
Für die 52 asiatischen Staaten ergibt sich Folgendes: <10 gibt es 23 asiatische Länder (ca. 32%), <50 errechnet sich ein nahezu identer Wert.
Das bedeutet, anhand der Zahlen belegbar, dass aus Afrika und Asien zusammen zwischen 75% und 80% derjenigen Länder kommen, wo die 7-Tages-Inzidenzen unter den Werten 10 und 50 liegen.
Zum Erreichen der 100%-Grenze tragen neben den bereits erwähnten europäischen Ländern noch Staaten aus Ozeanien, der Karibik und Mittel- bzw. Südamerika bei.
An dieser Stelle könnte man sich, so man die Antwort nicht schon wüsste, die Frage stellen, worauf diese Zahlen zurückzuführen sind. Warum bringen Afrika und Asien, in denen man nicht nach den wirtschaftlich, gesundheitspolitisch und infrastrukturell auf hohem Niveau befindlichen Staaten suchen sollte, etwas zustande, woran Europa, insbesondere die Europäische Union, seit Monaten kläglich scheitert. Selbst Parolen wie "koste es, was es wolle", das Zurverfügungstellen von kaum mehr vorstellbaren Geldbeträgen, vermögen speziell in den ansonsten wirtschaftlich stärksten Ländern Europas wenig zum Besseren zu verändern. Monatelange Lockdowns, wochenlange Schulschließungen, das Verbot sozialer Kontakte, Abstandsregeln, Schutzmaskenpflicht etc. - all das nützt scheinbar wenig. Als (letzten) Ausweg sieht man mancherorts die COVID-19 Schutzimpfung, deren administrative Abwicklung aber ganz offensichtlich nicht funktioniert. Es hat den Anschein, die linke Hand wisse nicht mehr, was die rechte den ganzen Tag so alles macht.
In Afrika und Asien erwartet man sich hingegen gar keine Schutzimpfung, möge sie auch (wie z.B. in Tansania) unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Wogegen soll man impfen? COVID-19 ist in weiten Teilen Afrikas (abgesehen von ein paar Ausnahmen) kein wirklich großes Thema.
Schulschließungen sind in Afrika beispielsweise nicht erforderlich: Von der ca. einen Milliarde Analphabeten weltweit kommt der Großteil aus Afrika, dem einzigen Kontinent, auf dem der Analphabetismus stetig zunimmt.
Trotz Schulpflicht gehen z.B. in Nigeria nur knapp 50% der Kinder in die Schule. Es gibt oft keine Schulgebäude, der Unterricht findet im Freien (ohne Schulbänke) statt, es gibt teilweise keine Toiletten oder fließendes Wasser.
Dazu kommt, dass im Norden Nigerias islamisches Recht gilt, sich die terroristische Gruppierung Boko Haram gegen westliche Bildung auflehnt, Schulen schließ oder niederbrennt. Bei den restlich verbliebenen Schulen handelt es sich um Koranschulen, in denen nur männliche Schüler zugelassen sind, um zu lernen, wie man den Koran "richtig" auslegt.
Diesem "Beispiel" folgen viele anderen afrikanische Staaten; da allenthalben Hungersnot herrscht, werden die Kinder für Feldarbeit, die Besorgung von Brennholz, das Viehhüten oder zum Wasser holen benötigt. Ohne sie wäre ein Überleben gar nicht möglich.
Dazu kommen jahrzehntelang andauernde Bürgerkriege bzw. Kriege gegen Nachbarländer, die Bildung oder Erziehung an sich vollkommen in den Hintergrund treten lassen.
"Distance Learning", wie beispielsweise in Österreich, ist in nicht möglich; neben der elektronischen Versorgung fehlt es an Internetverbindungen und letztlich auch an der erforderlichen Infrastruktur: Computer, Laptop oder Ähnliches sind in den größten Teilen Afrikas zwar bekannt, ihr Besitz aber undenkbar.
Auch der jahrzehntelange Umgang mit anderen Epidemien, wie Malaria, Ebola, Aids etc., hat den Afrikanern, wenn auch schmerzlich und mit viel Leid verbunden, gelehrt, wie man sich in solchen "Phasen" richtig oder am besten verhält - medizinische Versorgung hin oder her. Was die Menschen auf dem "schwarzen" Kontinent längst, über Generationen hinweg, kennen, ist für uns Europäer völliges Neuland.
Der entscheidende Punkt ist aber, dass aus den, eingangs erwähnten, Zahlen ganz deutlich erkennbar wird, dass, abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen, nahezu alle Länder <50 autokratisch, um nicht zu sagen diktatorisch, regiert werden. Das gilt für die afrikanischen wie asiatischen Staaten gleichermaßen.
In solch repressiven Regimen ist das Einhalten von staatlichen Maßnahmen nicht von der wohlwollenden Akzeptanz der Einwohner abhängig, sondern systemimmanent selbstverständlich. Zu groß sind Angst und Sorge, bei Übertretungen verhaftet, inhaftiert oder hingerichtet zu werden.
Damit soll keineswegs zum Ausdruck gebracht werden, ich wolle Autokratien gutheißen, demokratische Strukturen hingegen in Frage stellen. Was den Umgang mit der COVID-19 Pandemie betrifft, ist der bisherige "Erfolg" des geeinten Europas und des größten Teiles seiner Mitgliedsstaaten aber leicht überschaubar:
- Keine gemeinsame, europaweite, Strategie
- Kein gemeinsames Vorgehen bei der Einschränkung der, ohnedies bereits sehr ausgedünnten, "Reisefreiheit"
- Laienhafte Vorgangsweise bei der Beschaffung von Impfstoffen; viel (finanzielle, milliardenschwere) Vorleistung, wenig Impfstoff
- Symbol- bzw. Ankündigungspolitik (Zusagen werden nicht eingehalten, laufende Änderung von Entscheidungen etc.)
- Keine konkrete Impfstoffstrategie (wer impft? wer wird wann und wo geimpft? wie wird der Impfstoff logistisch verteilt?)
Das so hoch (-gelobt) entwickelte Europa mit all seinen Errungenschaften ist scheinbar seit nahezu einem Jahr nicht in der Lage, Antworten auf konkrete Fragen zu geben. Dadurch wird nicht nur die Bevölkerung verunsichert, sondern nach und nach geradezu zum "zivilen Ungehorsam" angehalten. Die Bilder aus den Niederlanden sind wohl nur der Vorbote flächendeckenden Protestverhaltens.
Dazu kommt, dass, nicht nur in Österreich, Verstöße gegen Gesetze, Verordnungen und sonstige "Maßnahmen" (wie z.B. die "Empfehlung", man möge sich an die Vorgaben von Sachverständigen halten) staatlicherseits kaum bis gar nicht sanktioniert wurden. Was beispielsweise im Straßenverkehr üblich und alltäglich ist, scheint im COVID-19 "Umfeld" nicht zu funktionieren. Die Exekutive ist auf dem Corona-Auge bislang "blind".
Dazu kommt die Flut an rechts- und verfassungswidrigen Rechtsakten aus unterschiedlichen Bundesministerien, die friktionsfrei durch den Nationalrat "wandern". So steht, zumindest in diesem Bereich, auch die zweite Staatsgewalt, die Legislative, auf tönernen Beinen.
Die Justiz, im "Kleid" des Verfassungsgerichtshofes, hat allenthalben nur zu reparieren, aufzuheben, legistische Fehlleistungen als solche zu entlarven.
All das gibt es, naturgemäß, in autokratisch verwalteten Systemen nicht.
Noch einmal: Das ist kein Lobgesang auf solche Staatsformen, kein Gutheißen diktatorischer Führung. Der Vorteil solcher Regierungsformen (was Pandemien betrifft) ist aber evident und nicht zu leugnen.
Chr. Brugger
27.01.2021