Beethoven - ein Genie

13.05.2020

Was konnte man nicht schon alles über ihn, sein Werk, lesen; "Weltgeist", "wichtigster Künstler der Musik", "menschliches Evangelium der Kunst der Zukunft", "mehr als alle anderen sind diese Kompositionen grenzüberschreitend und utopisch, auch sind sie mehr als ein Spiegel von Klängen; sie verwandeln sich in eine Art von Poesie"; jedenfalls ein Genie.

Zweitausendzwanzig wurde zum Beethovenjahr ausgerufen; Anlass: Sein zweihundertfünfzigstes Geburtsjahr. Seitdem ist er wieder einmal in aller Ohren, es wird vermehrt über ihn geschrieben, Legenden, über Generationen Tradiertes, Anekdoten, werden bemüht, um seiner gerecht zu werden, auch etwas zum Mythos beizutragen oder einfach ein paar Sätze zu Leben und Werk einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Nun habe ich von Musikwissenschaft nicht die geringste Ahnung, ebenso wenig von Musiktheorie, Komposition, Instrumenten- oder Satzkunde. Dennoch habe ich mich hinreißen lassen, mich mit Beethoven auseinander zu setzen.

Dazu habe ich nach und nach begonnen, mich zuerst mit seinen Kindheits- und Jugendjahren in Bonn zu beschäftigen; das gestaltete sich insofern schwierig, als es kaum "brauchbare" Literatur darüber gibt, Berichte von Zeitzeugen (Gottfried Fischer), deren Authentizität bezweifelt, am Rand des Anekdotenhaften angesiedelt wird. Wie bei vielen großen Komponisten betrachtet man im Nachhinein meist nur die Glanzzeiten, bleiben die frühen Jahre außerhalb des Blickwinkels der Biographen, Musikwissenschafter; Zeitgenossen kommentierten nur das bekannte Werk, erinnern sich aber mit keinem Wort an die Zeit davor. So verkommen auch bei Beethoven die Bonner Jahre (1770 - 1792) zu einem blassen Vorspiel seiner großen Zeit in Wien.

Es gibt aber ein paar Ansätze, die aufhorchen, den später erst zu Tage tretenden Charakter von Beethoven in einem anderen Licht erscheinen lassen. Diese Hinweise entstammen zum Teil den Aufzeichnungen Fischers (zusammen mit seiner Schwester Cäcilia), andererseits "Ludwig van Beethovens Leben" von Alexander Wheelock Thayer.

Beethoven hatte einen Bruder (gleichen Namens), der nach wenigen Tagen verstarb. Mit seiner Mutter und seinem Großvater verband ihn eine innige Liebe; sein Vater und seine Großmutter "waren dem Trunke ergeben". Der Vater (Johann van Beethoven), war "sehr streng gegen ihn", "rauh und ungerecht", erteilte dem Sohn seit dessen frühester Kindheit Unterricht auf dem Klavier, "hielt ihn zu fast nichts anderem an".

Cäcilia Fischer "sieht ihn noch, wie er als kleines Bübchen auf einem Bänkchen vor dem Clavier stand, woran die unerbittliche Strenge seines Vaters ihn schon so früh festbannte ..."; "sein Thun und Leiden konnte gesehen werden".

"Da der vornehmste Zweck des Vaters eine möglichst schnelle und glänzende Entwickelung des musikalischen Talentes seines Sohnes war, um daraus einen »einträglichen Artikel« zu machen, so ließ er ihm keine weitere Schulbildung geben als die, welche er in den öffentlichen Elementarschulen erhalten konnte."

Dem jungen Beethoven war bewusst, "daß er außer Musik nichts verstehe, was zum geselligen Leben gehöre, deßhalb sei er so verdrießlich unter anderen Menschen und ziehe sich zurück, daß man ihn für einen Misanthropen halte".

Er war schon als Kind in sich gekehrt und ernsthaft, die gewöhnlichen Kinderspiele waren nie seine Unterhaltung; er wird als scheu und einsilbig beschrieben, "er beobachtete und dachte mehr, als er sprach, und überließ sich dem durch Töne und später durch Dichter geweckten Gefühle und der brütenden Phantasie".

Sehr bald war Beethoven bewusst, dass er über außergewöhnliche Anlagen verfügen musste; mit zehn Jahren komponierte er Stücke, "welche seine kleine Hand noch nicht greifen konnte. »Das kannst du ja gar nicht spielen, Ludwig«, habe sein Lehrer gesagt. »Aber wenn ich größer bin«, sei die Antwort gewesen".

Beethoven sei stundenlang am Fenster gesessen, habe Flecken im Hof betrachtet, großen Wohlgefallen an der schönen Aussicht auf Rhein und Siebengebirge gefunden; "Beethoven liebte den Rhein".

Zweiundzwanzigjährig übersiedelt Beethoven nach Wien, um bei Joseph Haydn seine Kompositionstechnik zu verbessern. Vermutlich einer der wichtigsten Mäzene Beethovens war Graf Ferdinand Ernst von Waldstein und Wartenberg, der ihm am 29.10.1792 schrieb:

"Lieber Beethowen!

Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange

bestrittenen Wünsche. Mozart's Genius trauert noch

und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bey dem uner=

schöpflichem Hayden fand er Zuflucht, aber keine Beschäf-

tigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden

vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß

erhalten Sie: Mozart's Geist aus Haydens Händen.

Bonn d 29t. Oct. 792. Ihr warer Freund Waldstein OT"


Alle Lehrer Beethovens, von Hayden abwärts, waren sich einig: Er sei immer "eigensinnig und selbstwollend" gewesen; für Kritik und Ratschläge ist er nicht empfänglich, dagegen ist er immun. Beethoven gilt als aufbrausend und jähzornig. Der eigene Anspruch, der sich selbst vorgegebene Maßstab, verlangen Unmenschliches; sein Werk überschreitet Grenzen, ist zeitlos wie zukunftsweisend, dient vielen Komponisten als Vorbild, Leitfaden, Grundlage.

Fürst Karl Alois Lichnowsky wurde Beethovens erster Gönner in Wien; er wohnt im Haus des Fürsten, erträgt aber das enge Naheverhältnis nicht lange; mit Lichnowsky überwirft sich Beethoven. An seinem Aufstieg in der hohen Wiener Gesellschaft ändert das nichts; der Adel verliebt sich in das Genie aus Bonn. Obwohl er sich selbst für ein solches hält und auch so wahrnimmt, kann er die anhaltenden Erfolge nicht genießen. "Manchmal möchte ich bald toll werden über meinen unverdienten Ruhm, das Glück sucht mich und ich fürchte mich fast deswegen vor einem neuen Unglück".

Die Stimmung kippt - seine Ertaubung schreitet voran; in einem Brief an seine Brüder Kasper Karl und Johann im Oktober 1802 ("Heiligenstädter Testament") beschreibt Beethoven seine Vorstellung von der Wirkung auf andere, seine selbstgewählte Isolation, sein so frühes Leben als Philosoph. Mit "feurig lebhaften Temperament geboren", "selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft", waren Herz und Sinn "von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich immer aufgelegt"; er verlor "einen Sinn denn ich einst in der grösten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben", "nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte (...)".

Seiner Lebensbeichte, verfasst in einer mit depressiv umschreibbaren Lebensphase, folgt die letzte große Schaffensperiode; sein Selbstverständnis, sein Primat als Künstler, die ihn umgebende Aura des Genialen, führen dazu, dass er - beinahe unbehelligt - tun und lassen kann, was er will. Seine Eskapaden, Exzesse, sein "unadeliger" Lebensstil, werden ihm nachgesehen, verziehen, die Frauen liegen ihm zu Füßen; selbst Goethe ist von seinem Talent fasziniert.

"Den späten Beethoven nachzuahmen hieße - paradox gesprochen - auch das Nichtmachbare nachahmen zu müssen" schreibt der Musikwissenschaftler Peter Gülke.

Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann setzte der letzten Klaviersonate Beethovens (op. 111), unter Mithilfe von Theodor W. Adorno, mit seinem "Doktor Faustus" ein Denkmal weltliterarischer Dimension; Adorno selbst scheiterte mit seinem, bereits an die zwanzig Jahre alten, "Beethoven-Projekt" immer wieder und letzten Endes endgültig an der "Missa Solemnis".

Man könnte noch Vieles hinzufügen - was (für mich) bleibt, ist aber letztlich immer wieder die Frage, warum Beethoven so war, wie er war?

Das Geniale an einem Menschen hat seinen Reiz aber auch seine ihm innewohnenden, immanenten, Grenzen; diese Grenzen erfuhr selbst Beethoven, vor allem bei den unzähligen Frauen, die er liebte, verehrte, von denen er magisch angezogen schien; sein Genialität war dabei keine taugliche Grundlage für die Normalität einer Ehe, Familie. Diese ihm innewohnende Sehnsucht wurde nie erfüllt.

Wo aber ein Genie die Szene betritt, ist der Wahnsinn, das von Beethoven mehrfach selbst beschriebene "Tolle", eventuell gar nicht allzu weit entfernt.

Beethoven trägt seine musikalischen Gedanken oft jahrelang mit sich herum, perfektioniert gleichsam seine Kompositionskunst vorab nur im Kopf, schreibt skizzenartig zwanghaft nieder, verwirft, korrigiert, verändert; der selbst auferlegte Perfektionismus artet aus, türmt sich auf zu einem Turm aus bunten Steinen, gleich Noten, manifestiert sich in seinen "großen" Werken, die überwiegend erst nach 1802 vollendet werden (beginnend mit der Symphonie Nr. 2 (op. 36)).

Er ist sehr stark der Zukunft zugewandt, revolutionär, teilweise aber durchaus pragmatisch, um nicht zu sagen opportunistisch; Anhänger der französischen Revolution, glühender Befürworter der Aufklärung, freiheitsliebend, Liebling des Adels, der Habsburger, leuchtender Stern während der Zeit des Wiener Kongresses, unbehelligter Freigeist selbst im von Zensur geprägten Polizeistaat Metternichs.

Hilflos im Alltäglichen, virtuos im Schaffen; Scheitern am Banalen, sich erhöhen in den eigenen Kompositionen; je mehr er persönlich vereinsamt, desto mehr Raum entsteht für seine musikalisches sich Ausleben; Lethargie und Hoffnung, Suizidgedanken mit dem gleichzeitigen Wissen um das noch Fehlende - die Entscheidung fällt vermeintlich leicht:

"(...) mit freuden eil ich dem Tode entgegen - kömmt er früher als ich Gelegenheit gehabt habe, noch alle meine Kunst-Fähigkeiten zu entfalten, so wird er mir troz meinem Harten Schicksaal doch noch zu frühe kommen, und ich würde ihn wohl später wünschen - doch auch dann bin ich zufrieden, befreyt er mich nicht von einem endlosen Leidenden Zustande? - Komm, wann du willst, ich gehe dir muthig entgegen (...)".


Was bedeuten nun Todesnähe, Schaffensdrang, Isolation, Depression, dennoch zahlreiche erfreuliche Phasen, sich nach wie vor anhaltend verlieben, in der von Beethoven erlebten, beschriebenen Form? Worauf ist dieses Konglomerat so unterschiedlicher Empfindungen zurückzuführen?

Man könnte es sich einfach machen, alles seiner schwierigen Kindheit "in die Schuhe schieben". Das würde aber dem Ganzen nicht gerecht.

Eine Beschreibung aus der Kindheit ("Beethoven sei stundenlang am Fenster gesessen, habe Flecken im Hof betrachtet, großen Wohlgefallen an der schönen Aussicht auf Rhein und Siebengebirge gefunden") lässt mich erinnern. Spätestens seit Anfang 2006 weiß ich, dass es Kinder gibt, die, drei Jahre alt, stundenlang zum Fenster hinaussehen, keine Notiz von dem nehmen, was sie umgibt, auf Worte nicht reagieren. Das Kind ist vollkommen abwesend. Man kann versuchen, dieses in der Realität nicht Vorhandensein, psychologisch aufzulösen: Das Kind befindet sich in einem kugelförmigen, elliptischen Gebilde, fühlt sich sehr wohl. Es nimmt sich alle Eigenschaften und ihm wichtigen Dinge wie aus einem Regal, in dem diese notwendigen wie nützlichen Lebensbestandteile auf Vorrat bereit liegen. Das Kind holt sich die Bausteine für sein Leben, aus allen Richtungen, mit beiden Händen, großer Freude; dieses Nehmen dauert lange und will nicht enden; es sucht sich seine Lebenselemente in aller Ruhe, nimmt sich die dafür notwendige Zeit.

Dieses anhaltende Nehmen wird durch das Auftreten der realen Welt jäh unterbrochen; es ist nicht belastend, stellt aber doch eine massive Einengung dar; der Raum zwischen der realen Welt und der dominanten Bezugsperson erweist sich als zu eng, da sich das Kind noch lieber in seiner eigenen Welt entwickeln möchte, unermüdlich nach hilfreichen Eigenschaften greift, sich daran erfreut.

Einen ähnlichen Prozess könnte Beethoven durchlebt haben; sein Problem dürfte diesfalls allerdings gewesen sein, dass er nicht die notwendige Zeit hatte, sich seine Lebensingredienzien selbst auszusuchen; bereits als Vierjähriger musste er sich, dem Vater gehorsam folgend, nahezu ausschließlich der Musik widmen.

Vielleicht hat er den zuvor beschriebenen Prozess aber auch zeit seines Lebens nie abschließen können, hat bis zum Ende hin nach Bausteinen für ein erfülltes Leben gegriffen, gesucht. Dafür spricht, dass er sein Können, sein Wissen um das für ihn Perfekte, bis zu seinem Tod, immer wieder zu befeuern, zu neuen Höhen zu führen, wusste.

Ein breites Spektrum an Wissen konnte er sich unter diesen Voraussetzungen jedenfalls nicht aneignen - daran litt er ein Leben lang. Dieser Teil fehlte ihm im Vergleich mit Gleichaltrigen. Dessen war er sich bewusst.

Seine mehr oder minder gescheiterten oder zum Scheitern verurteilten Liebesbeziehungen erscheinen als ein Spiegelbild des Lebens seiner Eltern und Großeltern. Erfüllung fand er in seiner autodidaktisch erlernten Tonkunst, seinem Verständnis revolutionären, kompromisslosen Komponierens.

Angetrieben von eigenem Anspruch, genialer Veranlagung, dem unbedingten Wollen, dem gnadenlosen Streben, bis hin zur Erschöpfung. Selbst seine schwere Erkrankung, der Verlust des Gehörs, konnte seinen Schaffensdrang nicht lindern. Der Wille, so zu sein, wie er es eigentlich nie wollte, lässt selbst dem Tod noch beinahe ein Vierteljahrhundert Zeit zukommen. In seinem Heiligenstädter Testament legt er seine Lebensbeichte ab; dann macht er sich auf den Weg zu neuen Höhen.

Das ständig anhaltende Wechselspiel zwischen Euphorie, was sein Werk und Enttäuschungen, was seine Liebesbeziehungen betrifft, war sicherlich nicht leicht zu ertragen. Dazu gesellte sich die nach und nach einstellende Erkenntnis, nicht mehr adäquat hören zu können. Diese Schwäche konnte Beethoven dadurch kompensieren, dass er die für seine Kompositionen erforderlichen Noten zwar akustisch nicht wahrnehmen, sie dennoch hören, spüren, fühlen und sie solcherart zu großartiger Tonkunst verdichten konnte.

Andeutungsweise wird Beethoven mit der großzügigen Gabe der Synästhesie in Verbindung gebracht. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, sich hier mit diesem Phänomen eingehender zu beschäftigen; ich begnüge mich daher mit einem Zitat aus www.wissenschaft.de (Jens Bergmann, "Gebündelte Sinne", Hinderk Emrich, Udo Schneider und Markus Zedler: Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: Das Leben mit verknüpften Sinnen. Hirzel, Stuttgart und Leipzig 2002):

"Sie sehen Töne, riechen Farben, schmecken Buchstaben: Synästhetiker erleben mehr als andere Menschen. Liegt hier der Schlüssel zum Verständnis des Bewußtseins?

Solche außergewöhnlichen Erfahrungen werden als Synästhesie bezeichnet, wörtlich: "Vermischung der Sinne". Synästhetiker sind - da kann Emrich seine Versuchspersonen beruhigen - nicht krank. Sie nehmen lediglich manche Ausschnitte der Welt anders wahr als ihre Mitmenschen. Für manche sind Wochentage mit Farben verbunden, andere sehen geometrische Formen, wenn sie Musik, Stimmen oder Geräusche hören. Bestimmte Gegenstände bekommen eine zusätzliche Dimension.

Aus psychologischer Sicht ist das Feuerwerk der Sinne über den Kreis der Betroffenen hinaus interessant. Synästhetiker berichten übereinstimmend von der Geschlossenheit ihrer Eindrücke: Wer etwa den Montag mit der Farbe blau verbindet, dem erscheint diese Farbe nicht zusätzlich vor seinem inneren Auge, sondern der Montag ist für ihn blau.

Dieses Phänomen könnte, so hofft Emrich, ein Schlüssel zu dem Mechanismus sein, der für die Einheitlichkeit unseres Bewußtseins verantwortlich ist: Wie schafft es das Gehirn, aus verschiedenen - zuweilen sogar widersprüchlichen Informationen - ein geschlossenes Weltbild zu erzeugen? Offenbar werden aktuelle Sinneseindrücke mit im Gedächtnis gespeicherten Bedeutungen verknüpft, ohne daß uns dies bewußt wird. Vermutlich verfügen Synästhetiker über zusätzliche derartige Brücken.

Die Vermischung der Sinne ist ein Indiz für den subjektiven Charakter der Wahrnehmung. Sie spiegelt nicht einfach Realität, liefert kein bloßes Abbild, sondern erzeugt eine eigene Wirklichkeit. Alle eingehenden Informationen werden mit einem inneren, individuellen Weltbild verglichen, akzeptiert oder verworfen. Eine Zensurinstanz fällt im Falle von Unklarheiten, etwa bei optischen Täuschungen, ein endgültiges Urteil - im Zweifel gegen die Sinnesdaten. Der Zensor bestimmt, was wir als Realität erkennen. Bei Synästhetikern ist er großzügiger, ihr Innenleben deshalb reicher.

Offenbar bietet die mehrdimensionale Wahrnehmung auch zusätzliche Anhaltspunkte für Erinnerungen. Was durchaus handfeste Vorteile mit sich bringen kann: Das Gedächtnis mancher Synästhetiker kann Überdurchschnittliches leisten. So hatte der bundesweit bekannte Rechenkünstler Rüdiger Gamm - der, ohne eine Sekunde zu zögern, sagen kann, wieviel 37 hoch 14 ist - schon als Zweijähriger ein Gespür "für die Harmonie von Zahlen". Manche empfindet er als "weich", andere als "spitzig". Er ist überzeugt, daß diese mehrdimensionale Wahrnehmung der Grund für sein erstaunliches Erinnerungsvermögen ist.

Das besondere Interesse des Psychiaters Hinderk Emrich gilt einer Gruppe, die erst in jüngster Zeit in den Blickpunkt geriet: den sogenannten Gefühls-Synästhetikern. Anders als bei den "klassischen" Synästhetikern, die Objekte fest - und ein Leben lang - mit zusätzlichen Sinneseindrücken verknüpfen, ist bei ihnen das Verhältnis zwischen Außenreizen und inneren Bildern eher locker, assoziativ.

Ihr zweiter innerer Monitor, so Emrichs Hypothese, bilde nicht Eigenschaften von Gehörtem oder Gelesenem ab, sondern die damit verbundenen Gefühlszustände. Diese - seiner Ansicht nach im Gegensatz zur klassischen Synästhesie - erlernbare Fähigkeit hält er für sehr nützlich: "Gefühls-Synästhetiker sind wie Künstler in der Lage, Bilder für innere Zustände zu finden. Sie haben einen sinnlichen, weniger abstrakten Zugang zu ihrer Gefühlswelt als andere Menschen."


Allenfalls war eine solche Norm- oder Funktionsvariante Beethoven dabei behilflich, seine Taubheit durch das verknüpfen können anderer sinnlicher Wahrnehmungen auszugleichen. Es ist aber durchaus denkbar, dass das von Beethoven selbst beschriebene, absolute Gehör ("einen Sinn denn ich einst in der grösten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben") dafür verantwortlich war, dass er, unabhängig von hörbaren Tönen, immer den richtigen Ton empfunden, getroffen hat. Absolut Hörfähige sind in der Lage, sich beispielsweise die einer bestimmten Klaviertaste zugehörige Tonhöhe vorstellen und wahrnehmen zu können, ohne sie dabei hören oder spielen zu müssen. Eine besondere Spielvariante absoluten Hörens ist die Ton-Farb-Synästhesie, bei der z.B. Klaviertaste, Tonhöhe und Farbe gleichzeitig wahrgenommen werden können. 

Selbsternannte Hobbypsychologen würden, da bin ich sicher, den absolut untauglichen Versuch unternehmen, die einer Hochschaubahn der Gefühle gleichende Lebensgeschichte Beethovens mit einer bipolar affektiven Störung (BAS) zu übertiteln.

Ich habe eine solche Argumentation schon einmal (im Zusammenhang mit Leo Tolstoi) gelesen und mich dazu nicht sonderlich wohlwollend geäußert.

Man fühlt sich von Zeit zu Zeit offensichtlich bemüßigt, vor allem Künstlern, meist noch dazu posthum, BAS zu diagnostizieren, bringt allenthalben Genie & Wahnsinn in Zusammenhang, wobei es dann das Genie ohne Wahnsinn gar nicht mehr zu geben scheint; das eine bedingt gleichsam das andere.

Bereits die Diagnostik an sich ist eine eigene Wissenschaft; selbst Experten sind oft nicht in der Lage, BAS richtig zu diagnostizieren. Anamnesen sind äußerst schwierig; an BAS Erkrankte sind manipulativ, können ihr Gegenüber, wer immer es sein mag, sehr gut einschätzen, sich äußerst gut verstellen, Fragen instinktiv so beantworten, dass vorschnelle oder falsche Diagnosen (z.B. Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Schizophrenie) beinahe üblich sind.

Ohne genaue Kenntnis des potenziell Betroffenen, dessen Lebensgeschichte, verkommen diagnostische Annahmen zu reiner Spekulation. Diese sind, stammen sie von Laien, Kaffeesudleserei letztklassiger Güte.

Die größte Hürde, sich dem Thema BAS annähern zu können, stellt aber die Tatsache dar, dass die Diagnostiker selbst nicht daran erkrankt sind, BAS nur vom Studium, der Lektüre von Fachliteratur oder vom Hörensagen kennen; sie wissen nicht einmal ansatzweise, wie sich eine BAS anfühlt, welche Zustände durchlebt, welche Sphären durchschritten werden (müssen).

Niemand von denen, die meinen, BAS feststellen zu können, haben eine Ahnung davon, was es bedeutet, zehn Tage lang nichts zu essen, keine Minute zu schlafen, weiße Mäuse zu sehen, fremde Stimmen zu hören. Man kann versuchen das zu beschreiben, scheitert aber immer wieder am fehlenden Verständnis; das steigert die Belastung ins Unerträgliche; man fühlt sich einsam, miss- oder gar nicht verstanden, sitzt auf dem Gipfel eines Berges, betrachtet stundenlang die Niederungen, diejenigen, die sich dort um ihr normales Leben kümmern, nichts zustande bringen, denen es dahinverblödend nicht vergönnt ist, einen einzigen vernünftigen Satz schreiben, zu keinem brauchbaren Gedanken in der Lage sind. Diese Perspektive aus der Höhe wird zur zentralen Sichtweise, die alle Lebensbereiche durchdringt. Man zieht sich - so hat es eine Freundin einmal beschrieben - in eine Festung zurück, zu der es keinen Zutritt von außen gibt. Selbst kann man zwar die Festung verlassen, fühlt sich dort aber durchaus wohl; dort wird man zumindest von niemandem gestört, setzt sich nicht der Gefahr aus, nicht verstanden werden zu können. Dort kann man kreativ sein, schreiben, malen, komponieren, Gedanken zu Tage befördern, zu denen man außerhalb der steinernen Mauern nicht in der Lage ist oder wäre. Kreative Einsamkeit ist das wesentlich geringere Übel als am sinnentleerten Alltag der Gesellschaft teilnehmen zu müssen. Innerhalb der Festung hat man seine Ruhe, außerhalb sind Konflikte vorprogrammiert. Das Gedankengut solcher Menschen ist mit dem der Allgemeinheit nicht kompatibel. Man ist nicht deswegen so einsam, weil man allein ist; man ist einsam, weil man von niemandem verstanden wird; dieses Gefühl tut weh, nicht nur psychisch auch physisch. Der Körper reagiert, zeitlich verzögert, verweigert jede Nahrungsaufnahme, fordert körperfremde Substanzen, benötigt keinen Schlaf mehr. In solchen Phasen ist man in der Lage vierundzwanzig Stunden am Tag in alle Richtungen kreativ zu sein, völlig konzentriert, das Denken hingegen bleibt ausgespart, alles funktioniert spielerisch leicht, es gibt nichts was einem fremd wäre, man nicht kennen würde. Alles gelingt mühelos, das Schreiben, Malen, von körperlichen Bedürfnissen ist man, abgesehen vom rein Sexuellen, befreit. 

An der Spitze solcher Zustände vereinigt sich die Manie manchmal mit der Psychose, das ohnedies bereits sehr subjektiv gefärbte Gedankengut beginnt sich allmählich im Irrealen, in dem was es tatsächlich nicht gibt oder zu geben scheint (was man zu Beginn nicht wahrhaben will), aufzulösen. Zeitliche Dimensionen verlieren jedwede Bedeutung, man befindet sich in einem zeitlosen Zustand. Man kann das zwar beschreiben, versuchen, es (im Nachhinein) zu verstehen; das völlig losgelöste Sein, das Überschreiten der gerade noch als normal zu bezeichnenden natürlichen Grenzen hin zu einer vollkommen absurden Welt ist gedanklich kaum noch fassbar.

Dann kehrt man mühsam in die übliche Umgebung, das gewohnte Umfeld zurück, alles scheint irgendwann wieder gewöhnlich zu sein. Das Problem, mit dem man sich in solchen Phasen zu beschäftigen hat, ist die Erinnerung an das angenehme, wohlig warme Gefühl des in sich selbst geborgen seins. Man hat sich, was sonst nicht der Fall ist, selbst geliebt, für ein paar Tage oder Wochen selbst reichlich Anerkennung spendiert, es gut mit sich selbst gemeint.

Die immanente Sehnsucht nach der Höhe, dem überhöht sein, bleibt auch im normalen Alltag ein ständiger Begleiter; an erkrankte Menschen empfinden BAS nicht als krankhaft, sondern durchaus angenehm. Für den Lohn des Hochgefühls der Erhabenheit ist man bereit, jede negative Konsequenz in Kauf zu nehmen.


Es ist möglich, dass auch Beethoven solche Phasen erlebt hat; manches scheint für eine solche Annahme zu sprechen; klar ist aber, dass er auf seinem Gebiet schon in einem als normal zu bezeichnenden Zustand über eine überragende schöpferische Kraft verfügt haben, genial gewesen sein muss.

Hypomanische Zustände, Manien sind niemals die Ursache für großartiges, schöpferisches Tätigwerden; dadurch wird man per se nicht kreativer. Was sich aber nach und nach zu erhöhen beginnt, ist die Empfindsamkeit, das Gespür für den richtigen Weg zu selbst erdachten Zielen, Lösungen, dem Werk an sich. Nicht der Weg ist das Ziel; das Ziel ist das Ziel, es gibt keinen Weg und sollte es dennoch, aus welchen Gründen immer, einen geben, ist er eine schnurgerade, die kürzeste Einbahn, die man sich vorzustellen vermag. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, warum der zeitlichen Dimension dann endgültig keine Bedeutung mehr zukommt.


Es gäbe noch zu bedenken, dass es Menschen gibt, bei denen die Nähe zum Geschaffenen, zum Ergebnis aller Anstrengungen, ein Maß erreicht, das sich mit dem Stadium des Verliebtseins vergleichen lässt. Der Künstler verliebt sich in das eigene Werk. Dabei handelt es sich um besondere Ausprägung des Narzissmus. So wie sich der Jüngling Narziss unsterblich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat, so verliebt sich der Künstler in sein Werk; beide kommen nicht mehr davon los. Das Selbstbewusstsein und die Eigenliebe des narzisstischen Künstlers immunisieren ihn gegen jedwede Kritik von außen; kritikfähig war auch ein Beethoven nicht. Er sah sich jedenfalls musikalisch über den Dingen.

In der Kunst ist dieser Hang zur Selbstbewunderung bisweilen mit dem sog. Cardillac-Syndrom untrennbar verbunden. Künstler müssen, um von ihrem Schaffen leben zu können, ihr Werk anderen Menschen, der Öffentlichkeit zugänglich machen. Das fällt ihnen umso schwerer, je bedeutender das Geschaffene Teil ihrer eigenen Identität geworden ist.

Cardillac, Meister der Goldschmiedekunst in der Erzählung von E.T.A. Hoffmann, einem glühenden Verehrer Beethovens, wird zum Serienmörder, weil er sich nicht von seinen Werken trennen konnte, sie, angetrieben von innerem Zwang, auf blutige Weise zurückzuholen vermeinte. Einer solchen Zerreißprobe zwischen Anerkennung durch das Werk, dennoch anderen dasselbe lieber vorenthalten zu wollen, war Beethoven zumindest bei seiner "Missa Solemnis" (op. 123) ausgesetzt; er tötet nicht, ringt vielmehr mit sich, um am Ende doch die Allgemeinheit zu begeistern.


Man sollte in der Retrospektive aus mehreren Gründen jedenfalls keinen Gedanken daran verschwenden, das Mysterium Beethoven abschließend erklären zu wollen.

Das würde ihm nicht gerecht, entspräche nicht seinem perfektionistisch anmutenden Anspruch an sich selbst, könnte nie den von ihm angelegten Maßstab erreichen. Man sollte sein Werk erklingen, ertönen lassen. Darum ging es ihm, darum sollte es all jenen gehen, die sich in seine Sonaten, Sinfonien, Konzerte etc. verliebt haben. Beethoven war Musiker, Komponist unter dem Schutz der Musen, kein Fall für die Couch.

Es hat wenig Aussicht auf Erfolg, etwas erklären zu wollen, was er vermutlich selbst nicht erklären konnte, auch für ihn ein Mysterium geblieben ist.

Am ehesten wird man Beethoven dadurch gerecht, vorbehaltlos seine hohe Kunst, seine überragenden, über allem stehenden, Kompositionen anzuerkennen, letztlich zu akzeptieren, dass er nicht nur (zu) seiner Zeit immer schon meilenweit voraus war; ein Genie ein-, gar überholen zu wollen hieße, es in Frage zu stellen. Das aber ist ein Ansinnen, für das Beethoven, vom Gipfel des Olymps der Tondichtkunst aus herabblickend, im besten Fall ein mitleidiges Lächeln übrighätte.


Chr. Brugger

12.05.2020