Anspruch und Wirklichkeit

06.12.2023

Die tendenziell rückläufige Anzahl liebgewonnener, "wertvoller" Beiträge führen manche meiner Leser darauf zurück, mir erginge es ähnlich wie ihnen: Die tägliche Konfrontation mit aktuellen politischen Ereignissen, die uns via allerhand Medialem bzw. dem, das gemeinhin als solches bezeichnet wird, widerfahren, führte nicht nur zur Ernüchterung, viel mehr noch zu einer bislang unbekannten Erschöpfung; man könne (ob eines Überflusses an Botschaften) nicht mehr klar erkennen bzw. zuordnen, was denn nun tatsächlich "Sache" sei oder zumindest sein könnte – man habe nicht bloß den Durchblick, sondern den Überblick verloren; was früher verständlich war, ist heute ein unlösbares Rätsel – man hat den Anspruch verloren, die Wirklichkeit verstehen zu wollen.

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000144312960/tick-tock-tiktok-politische-schockstarre-in-oesterreich-vor-dem-moeglichen

Und aus eben diesem undurchdringlichen Informationsdickicht, das sich vor ein paar Jahren noch passabel auf ein erträgliches Tatsachensubstart reduzieren ließ, dem man Herr oder Frau werden konnte, habe sich – in einem schleichenden Prozess – die sog. Politik(er)-Verdrossenheit erhoben, die sich letztlich dazu eignet, selbst demokratische Prinzipien beliebig in Frage stellen zu dürfen.

Sogar an der Frage, was Demokratie denn sein sollte oder bestenfalls wäre, scheiden sich mittlerweile die "Geister"; als besonders "geist- und hilfreich" erweisen sich in solchen Situationen "wohlklingende" Aussagen: "Demokratie neu denken und einen Weg der Zusammenarbeit finden, ist gerade in Krisenzeiten ein Vorbild." – Die salbungsvollen Worte eines wahrhaft Großen.

Demokratie neu denken?

Bedeutet das tatsächlich, den Anspruch mit der Wirklichkeit versöhnen zu wollen oder doch nur und wieder einmal, notdürftig schnöde den eigenen Trieb nach Machterhaltung zu befriedigen?

Löblich wäre das eine, obszön das andere.

Verstand & Charakter vorausgesetzt müsste man weder das "Rad neu erfinden" noch "Demokratie neu denken"; es genügte vollends, nicht laufend den Boden der normativen Verfassung zu verlassen, um sich in der eigens wie neuerdings anlassfallbezogen "zusammengezimmerten", deskriptiven Verfassungswirklichkeit "austoben" bzw. wildsauähnlich auch darin suhlen zu können.

Deskriptionen sind ja nicht nur das Antonym alles Normativen, sondern letztlich auch dessen eigner Untergang.

Was meine ich damit?

Ich möchte das anhand des "kleinen Einmaleins" der normativen Verfassung erklären:

Das Bundesverfassungsgesetz vom 10. Juli 1974 "über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks" (BGBL. Nr. 396/1971) normiert in Art. I (2) Folgendes:

"Die näheren Bestimmungen für den Rundfunkt und seine Organisationen sind bundesgesetzlich festzulegen. Ein solches Bundesgesetz hat insbesondere Bestimmungen zu enthalten, die die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programme sowie die Unabhängigkeit der Personen und Organe, die mit der Besorgung der in Abs. 1 genannten Aufgaben betraut sind, gewährleisten".

Gem. Art. II ist mit der Vollziehung des Gesetzes die Bundesregierung betraut.

Quelle: https://www.heute.at/s/medienministerin-stellt-orf-jetzt-knallhart-ultimatum-100247339

Vor nicht allzu langer Zeit hat sich die heimische Bundesregierung (ein weiteres Mal) mit der Situation konfrontiert gesehen, das ORF-Gesetz reparieren zu müssen; Anlass war, dass der Verfassungsgerichtshof bereits im Jahr 2022 die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (was die Finanzierung über Programmentgelte betrifft) monierte.

Durch die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 30.06.2022 (G 226/2021) war die Bundesregierung gezwungen, das ORF-Gesetz umfassend zu reformieren.

Während sich die Opposition (SPÖ, FPÖ & NEOS) im Prozess der Gesetzwerdung redlich um eine Stärkung der Unabhängigkeit des ORF bemühte, die ja (wie zuvor zitiert) im maßgeblichen Verfassungsgesetz vorgeschrieben ist ("Unabhängigkeit der Personen und Organe"), vermeinten die beiden Regierungsparteien (ÖVP & GRÜNE), die maßgeblichen Gremien des ORF (Stiftungsrat & Publikumsrat) auch künftig ihrem parteilichen Gutdünken ausliefern zu können.

Noch ehe das solcherart (durch ÖVP & GRÜNE) parteipolitisch infiltrierte ORF-Gesetz in Kraft treten konnte, war all denjenigen, die eins + eins juristisch zusammenzurechnen in der Lage waren, klar, dass die "maßgeblichen Organe" – entgegen dem klaren Wortlaut des Bundesverfassungsgesetzes vom 10.07.1974 – auch weiterhin parteilich & abhängig sein würden und das Gesetz dadurch verfassungswidrig bliebe.

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000140887221/wie-medienministerin-raab-im-report-beinahe-von-einer-haushaltsabgabe-fuer

Frei nach dem scheinbar parteipolitischen Credo von ÖVP & GRÜNEN, es könne nicht sein, was nicht sein darf, wurde wahr, was niemals hätte wahr werden dürfen: Ein verfassungswidriges Gesetz blieb durch seine parteipolitisch motivierte Reformierung weiterhin verfassungswidrig; ein solch "kluges" Handeln gleich einer Kunst, die zwar niemand versteht, worüber (ob dessen) dafür hämisch gelacht werden darf.

Nach der neuerlichen Begutachtung des ORF-Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof muss der Staatsbürger, so er will und noch sinnerfassend lesen kann, u.a. Folgendes (vermutlich achselzuckend bzw. desillusioniert) zur Kenntnis nehmen:

  • "Die Bundesregierung nominierte neun Mitglieder des Stiftungsrates, während der Publikumsrat nur sechs Mitglieder bestellt. Es verstößt gegen das Pluralismusgebot des Rundfunkt-BVG, wenn die Bundesregierung mehr Mitglieder bestellen kann als der Publikumsrat.
  • Die Mitglieder des Stiftungsrats werden für vier Jahre bestellt. Die insgesamt 18 von der Bundesregierung und den Ländern sowie die sechs vom Publikumsrat bestellten Stiftungsräte können nach Bildung einer neuen Regierung bzw. nach einer Neukonstituierung des Publikumsrats vor dem Ende ihrer Funktionsperiode abberufen werden. Dies verstößt gegen das Unabhängigkeitsgebot.
  • Der Bundeskanzler (derzeit: die Medienministerin) bestellt 17 Publikumsräte, während 13 Mitglieder von im Gesetz festgelegten anderen Stellen (Kammern, Kirchen, Parteiakademien) nominiert werden. Es verstößt gegen die verfassungsrechtlichen Gebote der Unabhängigkeit und pluralistischen Zusammensetzung des Publikumsrats, wenn die Medienministerin mehr Mitglieder bestellen kann als die anderen Stellen.
  • Die 17 von der Medienministerin zu bestellenden Mitglieder des Publikumsrats sollen 14 gesellschaftliche Gruppen repräsentieren. Es verstößt gegen das Unabhängigkeits- und Pluralismusgebot, dass das ORF-G nicht genau genug regelt, wie viele Mitglieder der einzelnen Gruppen zu bestellen sind und welche Vorschläge von welchen Organisationen berücksichtigt werden."

In der Begründung ist u.a. noch zu erfahren:

"I. Gründe für die Aufhebung von Bestimmungen betreffend den Stiftungsrat

Übermäßiger Einfluss der Bundesregierung

Mangelnder Pluralismus

II. Gründe für die Aufhebung von Bestimmungen betreffend den Publikumsrat

Übermäßiger Einfluss des Bundeskanzlers

Zu weiter Spielraum des Bundeskanzlers"

Der brave wie unbedarfte und erschöpfte Staatsbürger kann sich an dieser Stelle die Frage stellen, wie so ein legistisches "Glanzstück" zustande kommen kann bzw. warum ÖVP & GRÜNE überhaupt noch in der Lage sind, wider besseres Wissen oder gar absichtlich, im parlamentarischen Procedere und vor dem Hintergrund einer zumindest dubiosen demokratischen Legitimation, so ein perfides Schauspiel zu veranstalten.

Das ist leicht erklärbar: Erinnern Sie sich an ein Zitat von vorhin ("Demokratie neu denken und einen Weg der Zusammenarbeit finden, ist gerade in Krisenzeiten ein Vorbild"); klingelts?

Quelle: https://dietagespresse.com/endlich-normal-kanzler-aendert-namen-auf-autokarl-hetero-schnitzel-normalhammer/

Das Zitat wird eben demselben zugeschrieben, an den auch die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes adressiert ist: Karl Nehammer …

Es stellt sich angesichts dieses absurden, evident eindimensional wie parteipolitisch motivierten Verhaltens nur noch die Frage, wofür man in unserer Bundesregierung eine Verfassungsministerin benötigt, eine Justizministerin oder gar eine Hundertschaft an Juristen im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts; werden die Genannten nicht gefragt, sind sie zu faul oder, was ich nicht annehmen will, schlichtweg zu dumm, um das zu wissen, was an und für sich jedermann weiß bzw. problemlos wissen könnte: Unparteilichkeit bedeutet u.a. frei von parteipolitischem Einfluss – nicht mehr (aber auch nicht weniger) fordert das Bundesverfassungsgesetz vom 10.07.1974; um dem zu entsprechen, bedarf es keines Studiums – sinnerfassend lesen zu können reichte völlig aus.

Das zu verlangen bzw. vorauszusetzen, ist scheinbar bereits zu viel des Normalen bzw. für die "Normalen" in diesem Land – auch in diesem Fall hat also der hehre Anspruch an sich selbst mit der Wirklichkeit nichts gemein.

Chr. Brugger

06/12/2023