07.10.2023

19.11.2023

Irgendwie mutet es eigenartig an: Immer, wenn sich etwas, das dem Vernehmen nach "so noch nie da gewesen" ist, ereignet, stellen allerlei Parteipolitiker & sonstige Experten reflexartig unter Beweis, für Eventualitäten aller Art gerüstet, in noch so fremden Gebieten (wie auf Knopfdruck) gleichermaßen problemaffin & kompetent zur Stelle zu sein – um uns, dem unwissend blöden Volk, mit durchaus sinnstiftenden Worten die einzig denkbare Sichtweise erklären zu wollen.

Immer wieder bin ich aufs Neue ebenso tief berührt wie beeindruckt – wie machen das (neben der heimischen Parteipolit"elite") die Born Menas, Bißmanns & Co´s? Deren wertvollen Beiträge in ebensolchen Diskussionsrunden (WildUmstritten, Talk Im Hangar-7, Zur Sache etc.) sind, ohne zu übertreiben, jeden Cent und jede Sendesekunde wert. Unglaublich, mit welcher Eloquenz & Stringenz, gepaart mit profunder Expertise samt historischem Rundumpanoramablick, die DiskutantInnen auftreten und uns, den geistig zurückgeblieben Ungebildeten, die Welt erklären.

Allwissend scheinen sie zu sein, inspiriert von Vernunft gleich schier genial anmutendem Talent; es sind in jedem Fall Genies gefragt, wenn z.B. Covid-19, der Krieg in der Ukraine, die Inflation, Flüchtlingsströme oder, wie zuletzt, ein Massaker in Israel unsere Gemüter erregen und wir im Begriff sind, wieder einmal gänzlich zu verzagen.

Wie die Schwammerl, unter dem Einfluss warmen Regens, im Frühsommer den Waldböden entsprießen, gedeihen in diversen "Krisen" Experten; hat sich etwas Außergewöhnliches zugetragen, wissen sie längst Bescheid; ohne zu zögern oder gar zu zaudern verorten sie das jeweilige Problem, kennen dessen Ursache und prognostizieren gleichzeitig die weltweiten, damit in Zusammenhang stehenden Implikationen.

In den letzten Wochen dominiert ein einziges Thema die heimische Berichterstattung; am 07.10.2023 wurden ca. 1.200 Menschen auf israelischem "Staatsgebiet" ermordet und ca. 250 Menschen in den angrenzenden Gazastreifen entführt; nicht erst seit diesem Tag ist (wieder einmal) die profunde Expertise all jener gefragt, die mühelos erklären können, was man von diesem Ereignis zu halten bzw. wie man damit umzugehen oder was man zu unterlassen hat.

Als Chefexperte tritt, welch Wunder einmal mehr, Charly N. auf: Wer das Land mit sicherer Hand aus der Covid-Pandemie geführt hat und adäquat am Krieg in der Ukraine teilnehmen lässt, uns nach und nach von der Geisel einer kursierenden Inflation erlöst, Sicherheit garantiert und längst einen Plan bis 2030 erarbeitet hat, ist (unwidersprochen) bereits ad personam geeignet, selbst das Schlachten im Nahen Osten angemessen zu moderieren. Schützenhilfe erhält der smarte "Liebling der Nation" just von denen, die uns, den Dummerchen, in den zuvor genannten Veranstaltungen ihr wissenschaftlich fundiertes Gedankensubstrat zuteilwerden lassen.

Wer Bißmann, Kohl, Engelberg und all die anderen Nahostkenner gehört hat, sollte – vor dem Hintergrund der Ansicht eines die Haltung bewahrenden N. – zumindest wissen bzw. zustimmend zur Kenntnis nehmen, dass die Mitglieder der Hamas nichts anderes im Sinn haben, neben Israel (der einzigen Demokratie in dieser Region!) auch alle westlichen Staatsgebilde zu zerstören.

Israel habe (ob all dessen) ein uneingeschränktes Recht zur Verteidigung seiner selbst – es habe sich lediglich an der Linie des (humanitären) Völkerrechts zu orientieren; eine Waffenruhe sei infolgedessen abzulehnen: Der Showdown must go on – Kollateralschäden sind billigend in Kauf zu nehmen und im Namen der Hamas-Zerstörung gerechtfertigt; für ermordete oder verletzte Zivilisten im Gazastreifen sei jedenfalls die Hamas verantwortlich, "nie mehr wieder" das Gebot der Stunde; vor allem Österreich habe eine historisch bedingte bzw. verpflichtende Verantwortung, sich unverbrüchlich an der Seite Israels zu wähnen – ohne Wenn und Aber, Solidaritätsbesuch in Israel inklusive.

Wäre diese "offizielle" Haltung Österreichs das Maß aller Dinge, dürfte sich so mancher die Frage stellen, warum just jetzt der Antisemitismus scheinbar zu einem neuerlichen "Höhenflug" ansetzt, fast täglich Pro-Palästina-Demonstrationen im Gewande antijüdischer Zusammenrottungen stattfinden, bei einem einmaligen Lichtermeer für Israel hingegen "nur" ca. 20.000 Menschen teilgenommen haben – ein Massaker ("schlimmer als der Holocaust") als Initialzündung dafür, den offenbar schwelenden Hass auf alles Jüdische neu aufflammen zu lassen, Fahnenraub inklusive?

Sind wir tatsächlich das Land der Antisemiten oder Judenhasser, der sich nicht erinnern Wollenden, ein Volk, das sich seiner historischen "Verantwortung" nicht länger oder nicht mehr bewusst sein will, es möglicherweise mehrheitlich gar nie war?

Wer relativiert, kontextualisiert oder gar darüber nachdenkt, ob im Nahen Osten mittlerweile nicht längst nur noch "Gleiches mit Gleichem" vergolten wird, gilt mittlerweile als Antisemit.

Nun hat jedes Massaker, nein, jeder einzelne Mord, das Ereignis an sich also, Alleinstellungsmerkmale, die es im Zeitpunkt des sich Ereignens von allem anderen isoliert und abhebt; das ändert aber, so man daran Interesse hat, Ursachen und/oder Motive zu erforschen, nichts daran, das jeweilige Ereignis in seinem Kontext betrachten zu müssen; ob das jemandem passt oder nicht ist einerlei; es ist weder verboten, kontextuell zu denken noch zu vergleichen – selbst wenn sich etwas ereignet hat, was sich schwer vergleichen lässt.

Nicht mehr "ja, aber" sagen oder relativieren zu dürfen kommt einem schwachsinnigen Denkverbot gleich.

Wenn das Ermorden von Zivilisten im Gazastreifen angeprangert und Israel zur Waffenruhe aufgerufen wird, bedeutet das noch lange nicht, man stellte damit zwangsläufig das Existenz- und Selbstverteidigungsrecht Israels in Frage; wem in Anbetracht des Massakers vom 07.10.2023 das jahrzehntelange Morden der Israelis im Westjordanland in den Sinn kommt, verharmlost damit nicht gleichzeitig die Ermordung jener 1.200 Menschen, die am 07.10.2923 von der Hamas massakriert wurden; und wer Israel vorwirft, seit mehr als 70 Jahren Krieg gegen alles & jeden zu führen, will damit Israel noch lange nicht von der Landkarte löschen.

Ginge es vor allem nach dem parteipolitischen Massengeschmack der hierzulande Regierenden bzw. den mittlerweile aus allen Löchern kriechenden "Nahostexperten", wäre man auf Gedeih & Verderb verpflichtet, sich im Namen der Verteidigung unreflektiert an der Seite des "Staates" Israel in einen fragwürdigen Vernichtungskrieg gegen alles, was im Gazastreifen vorzufinden ist oder sich dort bewegt, zu begeben – mit allen unvorhersehbaren Konsequenzen und der unbeantworteten Frage nach dem Danach.

Das Massaker vom 07.10.2023 samt anhaltender "Verteidigung" unterscheidet sich im Ergebnis bereits heute nicht von all den sonstigen Grausamkeiten, die wir in den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen mussten; seien es die Massaker in Syrien, Jugoslawien, Tschetschenien, Vietnam, Afghanistan oder Irak, in Ruanda, Mali dem Kongo oder in Uganda; allein, Berichterstattung & Resonanz sind anders; wer hat je ein Wort über jene 500 Malier verloren, die im Vorjahr in einem 5 Tage andauernden Blutrausch im Dorf Moura auf bestialische Weise getötet wurden? Wo war dort die internationale Anteilnahme, ein Echo Österreichs?

Wie lange hat man sich mit dem "Afrikanischen Alptraum" des Jahres 1994 in Ruanda beschäftigt, als binnen 3 Monaten rund 1.000.000 (eine Million) Menschen systematisch abgeschlachtet wurden? – Ein rassistisch motivierter Genozid, der scheinbar keiner Erinnerungen würdig ist …

Wer hat, wenn überhaupt, Kenntnis von jener Schlächterei, die sich in der Nacht vom 17. auf den 18. Juni dieses Jahres in Lhubiriha (Uganda) zugetragen hat?

Wie lange wurde über den 4 Jahre andauernden Völkermord an den Herero und Nama geschwiegen? Mehr als 50.000 namenlose Opfer und kein Wort darüber!

Ach ja – vergleichen oder "aufrechnen" darf man nicht! Erinnern soll man sich nur an diejenigen Opfer, für die sich zumindest das offizielle Österreich historisch verantwortlich und zuständig fühlt.

Ich sehe keine wie immer geartete Veranlassung, laufend bloß selektiv in den Rückspiegel der Geschichte zu blicken, um dort (in Auschwitz und andernorts) ermordeter Menschen zu gedenken; ich weigere mich, mir von parteipolitisch motivierten Möchtegerndauergedenkenden ein schlechtes Gewissen samt moralischer Verantwortung einreden zu lassen; ich fühle mich weder verantwortlich noch schuldig oder gar dazu veranlasst, dem anhaltenden Gedenkkult zu huldigen, in das #WeRemember-Orchester einzustimmen oder mich anderweitig an etwas zu beteiligen, was in Wahrheit lediglich ein Segment dessen betrifft, was entartete Schlächter anderen Menschen im Verlauf der letzten Jahrhunderte angetan haben.

Wenn man sich erinnert, möge man sich an alle Opfer erinnern und nicht nur an jene, deren Vorhandensein man jahrzehntelang einfach ausgeblendet hat und nun vermeint, nachträglich etwas gutmachen zu können oder sich entschuldigen zu müssen.

Chr. Brugger

19/11/2023